4. Die Heilige und die Hure

Im Übrigen lässt sich die Popularität der „Trauernden“ mit der Tradition weiblicher Trauerarbeit allein nicht erklären, wenn sie – neben der Verkörperung eines sanften Abschieds – auch zum Objekt voyeuristischer Flaneure werden konnte. Der Einbruch des Erotischen in die Welt des bürgerlichen Grabmalkults muss andere Gründe haben. Möglicherweise hängen sie mit der Ästhetik scheinbar unschuldiger Reinheit zusammen, die von der Trauernden verkörpert wurde und die doch zugleich auf die Doppelbödigkeit der Geschlechterbeziehungen verweist. Gerade das Reine, Unschuldige, fast Engelsgleiche bot männlichen Phantasien genug Projektionsfläche – die bürgerliche Kulturgeschichte bietet genug Beispiele. [21] Elisabeth Bronfen hat anhand des Literaturkanons festgestellt, dass der Topos der „schönen Frau“ half, den Tod zu sublimieren und metaphysisch zu verarbeiten. Demzufolge wurde die „schöne Leiche“ in den literarischen Texten als Metapher für Schönheit, Reinheit, Unschuld, Vergänglichkeit, Schicksalhaftigkeit, Vollkommenheit, aber auch für das sexuell Verführerische und Bedrohliche benutzt. Der Tod der „schönen Frau“ konnte – aus männlicher Sicht – zu einem Sinnbild des Verlustes werden, weil das Objekt des Begehrens in einem ganz konkreten Sinn „unerreichbar“ wird: „Als reiner Körper ist die schöne Leiche eine beliebige, leere, endlose Projektionsfläche – völlig Spiegel – für die Wunschphantasien und Angstbilder des Betrachters.“ [22] Nicht umsonst ist „Der Tod und das Mädchen“ ein bekanntes Motiv der europäischen Geistesgeschichte, das im Zeitalter von Romantik und Empfindsamkeit immer wieder in erotisierenden Varianten aufgegriffen wurde. [23] Auch in der Kunst ist der Tod in Gestalt weiblich-sinnlicher Schönheit bekannt – bis hin zu jener „femme fatale“ (verkörpert etwa in der Gestalt der Salomé), deren Verführungskraft der Mann scheinbar ohnmächtig ausgeliefert war. [24] In einem Zeitalter, in dem die gesellschaftliche Säkularisierung rasch voranschritt und der christliche Glaube immer weniger sinnstiftend wirkte, konnte durch das Bild der „schönen Frau“ die Konfrontation mit dem Tod auf ganz spezifische Weise sublimiert werden.

So ließen sich weibliche Schönheit und Reinheit nicht nur für die Trauerarbeit funktionalisieren, sondern auch für die Ordnung der Sinnlichkeit. Ebenso wie der literarische Topos der „schönen Leiche“ bot auch die Grabfigur der „Trauernden“ genug Projektionsflächen für erotische Phantasien. In der „Trauernden“ wurden sie gleichsam stillgestellt – bevor die Phantasie des Betrachters entschied, welcher Aspekt in den Vordergrund rückte: das Reine oder das Verführerische, die Heilige oder die Hure ... Dass die Friedhöfe gerade in jener Epoche, als die „Trauernde“ ihre Blütezeit erlebte, zu einem Ort der Promenade geworden waren, hatte einen „unschuldigen“, ja geweiht erscheinenden Raum für den voyeuristischen Blick geschaffen.

So produzierte die Grabmalkultur einen im öffentlichen Raum sichtbaren Frauenkörper, der dennoch ungreifbar blieb. Die seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelten Chiffren des sanften Todes erlaubten die unschuldige Darstellung von nicht ganz unschuldigen Gefühlen. Die „Trauernde“ wurde zu einer ganz besonderen, gesellschaftlich akzeptierten Form der Ordnung von Schmerz, Sinnlichkeit und Begierde.



Quellen

[21] Schon der Marienkult bot eine Projektionsfläche; Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München/Wien 1994. Ich danke Cordelia Heß für diesen Hinweis.

[22] Die schöne Leiche, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Elisabeth Bronfen, o. O. 1992, S. 377 – 379.

[23] Gert Kaiser, Der Tod und die schönen Frauen. Ein elementares Motiv der europäischen Kultur, Frankfurt/M. 1995, S. 43 – 49; Guthke (wie Anm. 19), S. 147.

[24] Helmut Knirim, Vom Todesgenius zum Tod in weiblicher Gestalt. Ein Aspekt der Todesikonographie im 19. Jahrhundert, in: Bilder und Tänze des Todes, Unna 1982, S. 86 – 96, hier S. 93ff.