Norbert Fischer: Zwischen Technik und Trauer. Berlin 2002.

Kapitel 1
Die Mission der "Krematisten": Auf dem Weg zur Bestattungsreform


1.1 Vorgeschichte Die Leichenverbrennungen in vormoderner Zeit

Der Begriff "Feuerbestattung" kam Mitte der 1870er Jahre auf und ersetzte das des 19. Jahrhunderts auf. Förderer der Feuerbestattung, wie die Mediziner Carl Reclam und Friedrich Küchenmeister benutzten ihn statt des zuvor üblichen, nun aber als pietätlos geltenden Begriffes "Leichenverbrennung". Unklar bleibt, wer den Begriff zuerst verwendete. Der Leipziger Mediziner Carl Reclam behauptete, ihn im Jahr 1874 eingeführt zu haben: "Seit ich im Mai 1874 (in Nr. 19 der "Gartenlaube") zum ersten Male das Wort "die Feuerbestattung" niedergeschrieben, ist dasselbe zum technischen Ausdruck für die Sache geworden." Andere billigen diesen neuen Begriff dem Dresdener Ingenieur Richard Schneider zu, der an der Entwicklung des ersten produktionsreifen Einäscherungsapparates in Deutschland beteiligt war. Im "Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften", das dem Thema "Feuerbestattung" Anfang des 20. Jahrhunderts bereits einen mehrseitigen Beitrag widmete, hieß es zur Begriffsfrage kurz und bündig: "Verbrennung und Beisetzung zusammen nennt man auch Feuerbestattung."

Derlei Definitionsfragen sind kein Zufall. Die moderne, durch industrielle Technik geprägte Feuerbestattung unterscheidet sich von den Leichenverbrennungen früherer Epochen und anderer Kulturen. Sie erwies sich als grundlegende Reform im Bestattungswesen. An sich aber war An sich war ddie Einäscherung Feuerbestattung keine Erfindung des Industriezeitalters. Sie galt in vorchristlicher Zeit neben dem Begraben als übliche Bestattungsart, ja, war sogar die Vornehmere von beiden. In vorchristlicher Zeit zählte sie zu den üblichen Bestattungsarten in Europa - und sie gehört zur Tradition unterschiedlicher außereuropäischer Kulturen. Von den Die Feuerbestattung war in vorchristlicher Zeit neben dem Begraben eine übliche Bestattungsart, ja, war sogar die Vornehmere von beiden Bestattungsarten. Tacitus schrieb über die Germanen hieß es, dass sie die Leichen angesehener Personen mit ausgewählten Hölzern verbrannten und darüber einen Rasenhügel errichteten. Im Römischen Reich galt die Leichenverbrennung wegen ihrer hohen Holzkosten als soziales Privileg vorchristliche Leichenverbrennungen fanden auf offenem Scheiterhaufen statt.

Auch gehört die Leichenverbrennung bekanntlich zu den Traditionen verschiedener außereuropäischer Kulturen und Gesellschaften. Mit dem Buddhismus beispielsweise breitete sie sich von Indien über den asiatischen Kontinent aus. In der ethnologischen Literatur werden verschiedene Gründe für die Feuerbestattung angeführt.: "Die Brandbestattung, also die Vernichtung des Leichnams, kann zunächst den Sinn haben, entweder der Seele die Möglichkeit zu geben, den Körper schnellstmöglichst zu verlassen, oder der Seele den alten Wohnsitz zu zerstören und ihr damit den Anreiz zur Wiederkehr zu nehmen." Dazu gehört die Furcht vor dem Toten als "Wiedergänger" - auch in isländischen Sagas findet man die nachträgliche Verbrennung, um das zerstörerische Wirken eines wiedergängerischen Toten zu unterbinden. Bei Nomadenvölkern hingegen bedeutete die Einäscherung auch eine praktikable Art, die Überbleibsel der Verstorbenen zu transportieren. Dies gilt auch für die Verbrennung gefallener Krieger - wobei die Asche etwas von der Macht des Verstorbenen auf den eigenen Körper übertrug.

Die Bevorzugung von Körperbestattung oder Leichenverbrennung hängt eng mit den Jenseitsvorstellungen zusammen. Der Islam kennt nur die Körperbestattung. Auch das Christentum mit seiner Lehre von der körperlichen Auferstehung des Fleisches propagierte die Erdbestattung. Mit der Ausbreitung des Christentums wurde die Verbrennung verdrängt und nur das Begraben des Leichnams anerkannt, Einäscherungen hingegen als "heidnisch" verdammt und verfolgt. Letztere widersprachen nicht zuletzt dem Reliquienkult, der mit der Verehrung der Märtyrergebeine in der Alten Kirche eingesetzt hatte. Daraus resultierte ja auch der Wunsch, in der Nähe der Reliquien beerdigt zu werden - folgerichtig wurden zunächst das Gotteshaus und der umliegende Kirchhof zum christlichen Bestattungsort. Karl der Große verbot im 8. Jh. n. Chr. die Leichenverbrennung unter Androhung der Todesstrafe. Gleichwohl blieb sie in einzelnen Regionen Europas bis ins 13. Jahrhundert hinein bekannt.

Unter diesen Voraussetzungen gab es erst mit Beginn der Neuzeit, im 17. und 18. Jahrhundert, wieder Stimmen, die für die Leichenverbrennung eintraten. So schrieb beispielsweise der englische Physiker Thomas Brown 1658 ein Buch zum Thema Einäscherung. Der im deutschsprachigen Raum spektakulärste Fall einer Persönlichkeit, die sich nicht nur offen für die Feuerbestattung aussprach, sondern sie auch praktizieren ließ, war jener des 1706 geborenen Grafen Albert Josef von Hoditz. Der durch seinen "phantastischen Kunstsinn" bekannte Adlige war Kämmerer am Hofe Kaiser Karls VI. und heiratete 1734 Sophia, Witwe des Markgrafen Georg Wilhelm von Bayreuth. Hoditz war ein Freund von Friedrich dem Großen, der ihn 1742 zum Befehlshaber eines Husarenregiments ernannte und ihm später, als er auf seinem Landgut Rosswald (Österreich-Schlesien) lebte, eine Pension aussetzte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Hoditz jedoch auf Einladung Friedrich des Großen in Potsdam, wo er am 18. März 1778 starb. Nach Überführung auf das Landgut Rosswald wurde sein Leichnam - wie zu Lebzeiten verfügt - eingeäschert. Bereits zuvor war der Leichnam seiner 1752 verstorbenen Frau auf Rosswald eingeäschert worden. Übrigens hatte auch Friedrich der Große selbst noch 1741 schriftlich seine Einäscherung und die Beisetzung der Aschenurne im Rheinsberger Park verfügt, später jedoch diesen Plan wieder aufgegeben ... .

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, vor dem Hintergrund von Aufklärung, Revolution und dem neuerwachten Interesse an antiker Kultur, rückte die Feuerbestattung immer stärker ins gesellschaftliche Blickfeld. Es gab einige, teilweise utopische Ideen und Projekte, die auf Wiedereinführung der Leichenverbrennung zielten, aber nie realisiert wurden. Im Jahr 1778 veröffentlichte der Jenaer Philosophieprofessor Justus Christian Hennings in einem mehrere Abhandlungen umfassenden Sammelwerk einen Beitrag unter dem Titel "Von dem Fehlerhaften bey den Begräbnissen, sowohl überhaupt als auch besonders in Hinsicht auf die Auferstehung der Leiber". Hennings hielt alles die Verwesung Befördernde für "Veredelung", Gewölbebestattungen hingegen für Missbrauch. Als eine rationale, der Zeit angemessene Bestattungsart sah er die Totenverbrennung an. Vorschläge zur Wiedereinführung der Feuerbestattung machte 1792 auch der in Hamburg wirkende Kaufmann, Pädagoge und Sozialutopist Franz Heinrich Ziegenhagen.

Noch radikaler muten übrigens utopische Bestattungsprojekte aus dem revolutionären Frankreich an, die späteren Feuerbestattungsentwürfen zumindest verwandt waren. Zu den spektakulärsten Beispielen gehört das aus dem Jahr 1796 stammende Projekt des Architekten Pierre Giraud, der für Paris eine zentrale "fabrikartige Bestattungsanlage" mit einer Pyramide als Mittelpunkt eines von Arkaden umlaufenden Landschaftsparks vorsah. Mithilfe des chemischen Vitrifikations-Verfahrens, das seit dem 17. Jahrhundert bekannt war, sollten die Gebeine im Inneren der Pyramide in eine feste glasartige Substanz umgewandelt werden. Individuelle Grabmäler entfielen, die Pyramide war das gemeinsame monumentale Erinnerungszeichen.

Auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zu einzelnen demonstrativen Einäscherungen. Berühmt ist der Fall des am 8. Juli 1822 bei Viareggio im Ligurischen Meer bei einem Segelunfall im Alter von 29 Jahren ertrunkenen englischen Dichters Percy B. Shelley. Sein Leichnam wurde auf einem aus Eisenstäben und Eisenblech provisorisch zusammengezimmerten Ofen im offenen Feuer am Strand verbrannt. Als "unerhörtes Vorgehen" erforderte dieser Akt, der im Beisein von Shelleys Dichterfreund Lord Byron stattfand, eine besondere behördliche Genehmigung, für die sich der britische Gesandte bei den zuständigen Behörden in Florenz einsetzte. Die Verbrennung diente auch dem Ziel, die Beisetzung der sterblichen Reste Shelleys auf dem protestantischen Friedhof in Rom zu ermöglichen - ein Transport des bereits in Verwesung begriffenen Leichnams erschien aus hygienischen Gründen inakzeptabel.

Allerdings blieben solche, idealistisch motivierten Ereignisse für die konkrete Entwicklung der modernen Feuerbestattung von geringer Bedeutung. Dies gilt auch für jene nicht seltenen Passagen bei namhaften Schriftstellern (darunter Goethe und Schiller) und Wissenschaftlern, die die Feuerbestattung thematisierten. Der Sprach- und Altertumsforscher Jacob Grimm widmete der Feuerbestattung im Jahr 1849 einen eigenen, später im Druck erschienenen Vortrag vor der Berliner Königlichen Akademie der Wissenschaften. Grimm betonte dabei vor allem die ästhetischen Vorzüge der Einäscherung gegenüber der Erdbestattung.

Ihren Durchbruch schaffte die moderne Feuerbestattung schließlich im späten 19. Jahrhundert, dem Zeitalter von Hochindustrialisierung und Urbanisierung. Der allgemeine Säkularisierungsprozess einerseits, die Verwissenschaftlichung des Denkens andererseits taten ein Übriges, um die Sache auch gesellschaftlich spruchreif zu machen - jenseits aller idealistischen Entwürfe. Vor allem Mediziner und Hygieniker propagierten die Feuerbestattung nun immer stärker als fortschrittliche Alternative gegenüber dem Erdgrab. Aufgrund des rapiden Bevölkerungswachstums, das sich im Zuge der rasch fortschreitenden Industrialisierung entfaltete, kam es vielerorts auf städtischen Begräbnisplätzen zu Raum-, zuweilen auch zu hygienischen Problemen. Hier bot sich mit der Feuerbestattung eine platzsparende und hygienisch einwandfreie Lösung an.

Städtische Friedhöfe waren schon früher, vor allem im Zeitalter der Aufklärung, wegen hygienischer Probleme in den Brennpunkt der Kritik gerückt. Ursachen waren unter anderem die Überbelegung und Bestattung in Massengruben. Ein zeitgenössischer Kritiker schrieb noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: "So lange sich die Kirchhöfe noch im Innern der Städte befanden, fühlte auch das Publikum recht wohl die Nachtheile der Wohnungen in deren nächster Umgebung. In Hamburg waren im Anfang dieses Jahrhunderts wegen der von den Kirchhöfen aus sich verbreitenden verpesteten Luft die in deren Nähe befindlichen Wohnungen um die Hälfte wohlfeiler als in anderen Gegenden der Stadt."

Zwar kam es in den Jahrzehnten um 1800 zur Schließung vieler innerstädtischer Begräbnisplätze und zu einer regelrechten Welle von Friedhofsverlegungen vor die Tore der Städte. Aber das starke Bevölkerungswachstum des späten 19. Jahrhunderts ließ diese Maßnahmen vielerorts wieder als überholt erscheinen und nach Alternativen suchen. Im Übrigen wurden - trotz aller vernunftorientierten Kritik - stellenweise noch immer Leichen in Massengruben in mehreren Lagen übereinander bestattet. Halb verweste Körper mussten ausgegraben werden um Raum für weitere Beerdigungen zu schaffen. In Hamburg beispielsweise, wo die Kirche bis zur Eröffnung des neuen Zentralfriedhofes Ohlsdorf (1877) das Begräbniswesen kontrollierte, herrschten bei der Bestattung aufgrund der starken Frequentierung beklagenswerte hygienische Zustände.

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