Norbert Fischer: Zwischen Technik und Trauer. Berlin 2002.

Kapitel 1
Die Mission der "Krematisten": Auf dem Weg zur Bestattungsreform


2. Utopien des 18. Jahrhunderts

Ansonsten gab es vom Hochmittelalter bis zum 18. Jahrhundert nur vereinzelte Hinweise auf die Leichenverbrennung. Erst im 18. Jahrhundert rückte die Feuerbestattung wieder stärker ins gesellschaftliche Blickfeld. Vor dem Hintergrund von Aufklärung, Revolution und dem Interesse an antiker Kultur gab es einige, teilweise utopische Ideen und Projekte, die auf Wiedereinführung der Leichenverbrennung zielten, aber nie realisiert wurden.

Bereits 1741 hatte der preußische König Friedrich II. für sich eine Bestattung "auf römische Art" und eine Urnenbeisetzung für den Fall des Kriegstodes angeordnet. Im Jahr 1778 veröffentlichte der Jenaer Philosophieprofessor Justus Christian Hennings in einem mehrere Abhandlungen umfassenden Sammelwerk einen Beitrag unter dem Titel "Von dem Fehlerhaften bey den Begräbnissen, sowohl überhaupt als auch besonders in Hinsicht auf die Auferstehung der Leiber". Hennings hielt alles die Verwesung Befördernde für "Veredelung", Gewölbebestattungen hingegen für Mißbrauch. Als eine rationale, der Zeit angemessene Bestattungsart sah er die Totenverbrennung an. Vorschläge zur Wiedereinführung der Feuerbestattung machte 1792 auch der in Hamburg wirkende Kaufmann, Pädagoge und Sozialutopist Franz Heinrich Ziegenhagen.

Noch radikaler muten utopische Entwürfe aus Frankreich an. Zu den spektakulärsten Beispielen gehört das aus dem Jahr 1796 stammende Projekt des Architekten Pierre Giraud, der für Paris eine zentrale "fabrikartige Bestattungsanlage" vorsah mit einer Pyramide als Mittelpunkt eines runden Landschaftsparks, der von Arkaden umlaufen wird. Mithilfe der sogenannten Vitrifikation - einem seit dem 17. Jahrhundert bekannten chemischen Verfahren - sollten die Gebeine im Inneren der Pyramide in eine feste glasartige Substanz umgewandelt werden. Individuelle Grabmäler entfielen, die Pyramide war das gemeinsame monumentale Erinnerungszeichen.

Immerhin kam es im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einzelnen demonstrativen Einäscherungen. Bekanntes und spektakuläres Beispiel ist der 1822 im Ligurischen Meer ertrunkene englische Dichter Percy B. Shelley. Sein Leichnam wurde auf einem zu diesem Zweck aus Eisenstäben und Eisenblech provisorisch zusammengebauten Ofen im offenen Feuer am Strand nahe des italienischen Massa verbrannt. Als "unerhörtes Vorgehen" erforderte dieser Akt, der im Beisein von Shelleys Dichterfreund Lord Byron stattfand, eine besondere behördliche Genehmigung. Für diese Erlaubnis setzte sich der britische Gesandte bei den zuständigen Stellen in Florenz ein. Die Verbrennung wurde im Beisein von Byron durchgeführt von Edward John Trelawny, dem Begleiter Byrons und Shelleys in jenen Jahren am Mittelmeer. Sie diente auch dazu, die Beisetzung der sterblichen Reste Shelleys auf dem protestantischen Friedhof in Rom zu ermöglichen - ein Transport des bereits einmal begrabenen und in Verwesung begriffenen Leichnams schien aus hygienischen Gründen inakzeptabel.

Allerdings blieben solche Ereignisse für die Entwicklung der modernen Feuerbestattung von geringer Bedeutung. Dies galt auch für einen Vortrag des bekannten Sprach- und Altertumsforschers Jacob Grimm, den dieser im Jahr 1849 vor der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt. Grimm betonte die ästhetischen Vorzüge der Feuerbestattung gegenüber dem Verbrennen.

Erst die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelnden Lebenswelten gaben der Feuerbestattung neue Schubkraft. Vor allem Mediziner und Hygieniker propagierten sie als fortschrittliche Alternative gegenüber dem Erdgrab. Im Hintergrund standen dabei die zunehmende Industrialisierung mit ihren Folgewirkungen, wie Bevölkerungswachstum und Verstädterung. Etliche Kirch- und Friedhöfe hatten Platzprobleme, da bot sich mit der Feuerbestattung eine raumsparende und hygienisch einwandfreie Lösung an.

Städtische Friedhöfe waren spätestens im Zeitalter der Aufklärung in den Brennpunkt jenes öffentlichen Interesses gerückt, das sensibel geworden war für die hygienische Problematik eines ungeordneten Bestattungswesens. Die aufklärerischen Reformer wandten wandte sich gegen überbelegte Begräbnisplätze und gegen die Bestattung in Massengruben. Ein zeitgenössischer Kritiker schrieb noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die traditionellen Kirchhöfe: "So lange sich die Kirchhöfe noch im Innern der Städte befanden, fühlte auch das Publikum recht wohl die Nachtheile der Wohnungen in deren nächster Umgebung. In Hamburg waren im Anfang dieses Jahrhunderts wegen der von den Kirchhöfen aus sich verbreitenden verpesteten Luft die in deren Nähe befindlichen Wohnungen um die Hälfte wohlfeiler als in anderen Gegenden der Stadt."

Immer wieder wurde eine Verlegung der Friedhöfe gefordert - auch gegen den Widerstand der Kirchen, die ja das Bestattungswesen nach wie vor dominierten. Dies führte zwar seit dem späten 18. Jahrhundert zu einer massiven Welle von Friedhofsverlegungen in deutschen Städten. Auch in Hamburg waren in den 1790er Jahren neue Friedhöfe angelegt worden, was allerdings weitere Bestattungen auf den alten, prestigeträchtigen Kirchhöfen zunächst nicht unterbinden konnte - bis 1812 unter der französischen Besetzung ein Verbot aller innerstädtischen Beisetzungen erlassen wurde. Im übrigen ließ das starke Bevölkerungswachstum des späten 19. Jahrhunderts diese Maßnahmen bereits wieder als überholt erscheinen und nach weiteren Reformmöglichkeiten suchen.

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