Norbert Fischer: Zwischen Technik und Trauer. Berlin 2002.

Kapitel 1
Die Mission der "Krematisten": Auf dem Weg zur Bestattungsreform


1. 2. Kremation als Reformprojekt

Unter diesen Vorzeichen bot die Feuerbestattung eine praktische Alternative - sie stellte eine grundlegende und dem Industriezeitalter angemessene, d. h. "moderne" Reform im Bestattungswesen dar. Als bedeutsam für die weitere Entwicklung der Feuerbestattung erwies sich unter anderem die medizinische Diskussion über die Krankheitsübertragung durch Infektion. Man schrieb den Ausbruch menschlicher Krankheiten der Verunreinigung von Boden, Luft und Wasser zu. Angesichts der geschilderten Verhältnisse im Bestattungswesen verwundert es nicht, dass die Verwesungsprozesse auf den Begräbnisplätzen als besonders verdächtig galten. Der bereits erwähnte Dresdener Mediziner Friedrich Küchenmeister beschrieb 1875 detailliert, wie durch die schädliche Wirkung von Fäulnis- und Verwesungsgasen der städtische Grund und Boden vergiftet werden könnte. Auch allgemein schlossen sich Mediziner und Hygieniker der Forderung nach einer Bestattungsreform an. Unter anderem sprachen sich die internationalen medizinischen Kongresse in Florenz (1869) und London (1871) für die Feuerbestattung aus. Als 1873 auf der Weltausstellung in Wien eine Demonstration für die Feuerbestattung vollführte wurde, wurde dies international zu einem öffentlichen Gesprächsthema. Zu Beginn des Folgejahres sorgte eine Veröffentlichung des britischen Mediziners Henry Thompson unter dem Titel "Cremation: The treatment of the body after Death", die sich mit den hygienischen Vorzügen der Feuerbestattung auseinander setzte, bis in die USA hinein für Aufsehen.

Zwar konnte der anhaltende Kritik an der Beerdigungspraxis im Allgemeinen durch Verbesserungen bei der Anlage von Friedhöfen und Grabstätten begegnet werden. Im späten 19. Jahrhundert kam es im übrigen zu einer neuerlichen Welle von Friedhofsverlegungen, die zu hygienisch einwandfreien, den neuesten Erkenntnissen entsprechenden Regelungen des Beerdigungswesens führten - unter anderem durch die Anlage großer, weitab der Stadtzentren gelegener "Central-Friedhöfe".

Gleichwohl waren die Befürworter einer grundlegenden Bestattungsreform und der Einführung der Feuerbestattung nicht mehr zu bremsen. Die Diskussion um städtische Hygieneprobleme und die Einrichtung einer "öffentlichen Gesundheitspflege", die ja nicht allein die Friedhöfe betraf, verschaffte der Feuerbestattungsidee eine eigene, fast unaufhaltsame Dynamik.

Bereits 1855 forderte der preußische Militärarzt Johann Peter Trusen in seinem Buch "Die Leichenverbrennung als geeignetste Art der Todtenbestattung" die Einführung der obligatorischen Feuerbestattung. Zugleich richtete er eine Petition an das preußische Abgeordnetenhaus und warb - letztlich aber erfolglos - um die Zulassung der Feuerbestattung.

Ebenfalls Mitte der 1850er Jahre konzipierte Hermann Richter einen der ersten Einäscherungsapparate - die Verbrennung auf offenem Feuer, wie in vorchristlicher Zeit, schied von vornherein aus. Der Dresdener Hermann Richter (1808-1876) war Botaniker, Arzt und medizinischer Schriftsteller. Sein praktisches Engagement und öffentliches Wirken war charakteristisch auch für andere Feuerbestattungsanhänger. Unter anderem wurde er durch seinen Einsatz für eine Medizinalreform und seine publizistische Tätigkeit bekannt.

Auch die bereits erwähnten Protagonisten der Feuerbestattung, Friedrich Küchenmeister (1821-1890) und Carl Reclam (1821-1887), gehörten in dieses Umfeld einer Medizinal- und Hygienereform. Küchenmeister wirkte ab 1859 als Arzt in Dresden, einer späteren Hochburg der deutschen Feuerbestattungsbewegung. Neben medizinischen Publikationen beschäftigte er sich immer wieder mit dem Thema Feuerbestattung. In seinem "Cholera"-Handbuch von 1872 schlug er aus hygienischen Gründen die Einäscherung von Cholera-Toten vor. 1875 veröffentlichte er unter dem Titel "Die Feuerbestattung" seine Hauptschrift zum Thema, posthum erschien sein umfangreiches Werk "Die Todtenbestattungen der Bibel und die Feuerbestattung" (1893). Der Medizinalprofessor Carl Reclam zeichnete sich unter anderem durch eine reiche populärmedizinische Publikationstätigkeit aus. Dabei setzte er sich vor allem für eine verbesserte öffentliche Gesundheitspflege ein, so in der "Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege" und in der Zeitschrift "Gesundheit".

Auch der berühmte Mediziner und Politiker Rudolf Virchow - übrigens ein politischer Gegner Bismarcks - war Vorkämpfer einer Hygienereform und wirkte für die Feuerbestattung. Er hatte die liberale Deutsche Fortschrittspartei mitbegründet und war Mitglied im preußischen Abgeordnetenhaus, wo er sich 1875 für die Feuerbestattung einsetzte. Dabei nahm er ausdrücklich Bezug auf die hygienische Problematik der Friedhöfe, als er den Abgeordneten wörtlich erklärte: "... daß nichts wünschenswerter sein könne, als wenn unsere Sitte im ganzen die Verbrennung als Regel anerkenne; denn die zunehmende Anhäufung von Verwesungsstätten, welche die großen Städte wie einen Kranz umgeben, welche das Erdreich mit unreinen Stoffen erfüllen, welche weit und breit die Gewässer verunreinigen, sei kein Zustand, der mit den öffentlichen Gesundheitsprinzipien vertrage".

Gesellschaftlich erwiesen sich derlei Forderungen als Ausdruck jener pragmatisch-rationalen Einstellung zum Tod, wie sie vor allem von Medizinern, Hygienikern, Ingenieuren und anderen naturwissenschaftlich geprägten Berufen, aber auch von vielen Kaufleuten und Beamten vertreten wurde. Typisch für die praktisch orientierte Einstellung dieser reformorientierten Kreise war etwa, dass Hermann Richter die weitere Nutzung der beim Verbrennungsvorgang entstehenden Abfallprodukte vorschlug. Diese Idee ging zurück auf Jacob Moleschotts Theorie vom "Kreislauf des Lebens": Der Boden sollte mit jenen wertvollen mineralischen Stoffen angereichert werden, die in der Asche einer verbrannten Leiche vorhanden waren - etwa zur Steigerung landwirtschaftlicher Erträge. Der Anatom und populärmedizinische Schriftsteller Carl Ernst Bock (1809-1874) verbreitete die Ideen Moleschotts und Richters in seinen Schriften. Bock schrieb unter anderem zahlreiche Beiträge für die bekannte Publikumszeitschrift "Die Gartenlaube" - Hinweis darauf, dass die genannten Ideen nicht nur in Fachkreisen kursierten. Allgemein begünstigend wirkten der im Zeitalter der Industrialisierung immer rasantere technische Fortschritt und nicht zuletzt - dies sei erneut betont - die gesellschaftliche Säkularisierung, also der wachsende Bedeutungsverlust der Kirchen. Der erwähnte Rudolf Virchow beispielsweise setzte sich in der "Kulturkampf"-Zeit der Bismarck-Ära ausdrücklich für eine Begrenzung des kirchlichen Einflusses in Staat und Gesellschaft ein.

Wenn auch Vorschläge wie die Verwertung der Aschenreste aus heutiger Sicht recht befremdlich wirken und keine weitere Resonanz fanden, so deuten sie doch auf ein - neben der Hygienefrage - weiteres wichtiges Argument der Feuerbestattungsanhänger hin: die ökonomischen Vorzüge. Sie zeigten sich vor allem in der Platzersparnis, die das Aschen- gegenüber dem Erdgrab bot. Im Hintergrund stand dabei die städtische Bodenverknappung im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung. Es wurde immer schwieriger, neue Friedhofsflächen kostengünstig zu erschließen. Die Feuerbestattungsanhänger propagierten ihre Bestattungsart als raumsparende und damit wirtschaftliche Lösung dieses Problems.

Dabei kam ihnen sicherlich zu Gute, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts namhafte Persönlichkeiten im deutschsprachigen Raum für die Feuerbestattung aussprachen - darunter Fürst Hermann Pückler-Muskau, der Komponist und Dirigent Hans von Bülow (der sich nach seinem Tod 1894 im damals erst im dritten Betriebsjahr befindlichen Hamburger Krematorium einäschern ließ), der Kunsthistoriker und 1848er Revolutionär Gottfried Kinkel, die Dichter und Schriftsteller Gottfried Keller, Detlev von Liliencron und Peter Rosegger. Gottfried Kinkel äußerte auf dem ersten Europäischen Kongress für Feuerbestattung im Jahr 1876: "Diese Idee schläft nicht mehr ein; das Samenkorn, verschüttet, verliert seine Keimkraft nicht, sein Frühling kommt." Der in der Einleitung bereits zitierte Gottfried Keller hatte sich unter Einfluss des materialistischen Philosophen Ludwig Feuerbach mit der Feuerbestattung angefreundet.

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