Norbert Fischer: Zwischen Technik und Trauer. Berlin 2002.

Kapitel 1
Die Mission der "Krematisten": Auf dem Weg zur Bestattungsreform


1. 4. Die Auseinandersetzungen um die Einführung der Feuerbestattung

Das Hauptanliegen der Vereine bestand fürs erste darin, die zuständigen Regierungen der einzelnen deutschen Staaten bzw. die kommunalen Obrigkeiten zu einer Genehmigung für die Errichtung eines "Leichenverbrennungsapparates" zu bewegen. Neben der allgemeinen Werbetätigkeit durch Publikationen und Vorträge versuchten sie, dieses Ziel mit Hilfe von Petitionen an die Regierungen in den einzelnen deutschen Teilstaaten zu erreichen.

Dabei produzierte die Feuerbestattung eine Flut von Schriften, um ihr Anliegen zu verteidigen - und fast ebenso starke Gegenreaktionen zu provozieren. Befürworter und Gegner der Feuerbestattung arbeiteten mit teilweise drastischen Argumenten. Dies zeigen etwa folgende Ausführungen des Züricher Krematisten Johann Jakob Wegmann-Ercolani aus dem Jahr 1874: "Das Grab enthält das Schrecklichste was man sich denken kann, es sei nun in prachtvollem Monument die Leiche eines berühmten Staatsmannes, oder in einer unscheinbaren Grube diejenige eines Selbstmörders, eines Verbrechers, so wird uns beim Oeffnen ein unerträglicher Gestank entgegentreten. Erzeugt uns schon der beleidigte Geruchssinn Ekel und Abscheu, so wird das Auge noch viel schlimmere Eindrücke erhalten. - Das Gehirn, das Edelste des Menschen, das vielleicht vor Kurzem dem Minister einen Rath eingegeben, durch den sein Land vom Verderben errettet worden, oder das bei dem Strassenräuber Pläne entstehen liess, die ihn an den Galgen brachten, ist aus seiner Höhle ausgetreten, eine unförmliche schmierige stinkende Masse, die selbst von den Würmern verabscheut wird, welches ich doch so gefrässig am Fleische, am Herz, an den Lungen des Oberleibs und ganz besonders aber am Bauche, den Eingeweiden und den Schenkeln laben. Die Augenhöhlen sind leer, und alles was nicht Knochen, ist faul, eklig, die Sinne und Gefühle im höchsten Grad empörend."

Umgekehrt stellten die Gegner der Feuerbestattung den Einäscherungsprozess als abscheuliches Schauspiel dar - wobei der freien Phantasie offenbar keine Grenzen gesetzt waren, wie folgendes Beispiel aus dem Jahr 1889 zeigt: "Aber um des Himmels willen, was findet ihr doch Poetisches, Feierliches, Anziehendes an einem Leichname, der wie eine Salami auf eine unförmige Metallplatte festgebunden ist in einem Ofen ... wo man plötzlich die durch die Ausdehnung der Gase angeschwellten Wände des Unterleibs bersten sieht, wo das automatische Zusammenzucken und die Bewegungen der Leiche erschrecken und Abscheu erregen und die Flammen aus dem Bauche, dem Schädel und der Brust hervorzüngeln. ..."

Die Auseinandersetzung um die Frage von Erd- oder Feuerbestattung rührte an grundsätzlichen weltanschaulichen Positionen, insbesondere in Bezug auf die Kirchen als Hauptgegner der Feuerbestattungsbewegung. Sowohl für die evangelische als auch für die katholische Kirche galt - das klang bereits an - die Feuerbestattung als Verstoß gegen die christliche Tradition des Begräbnisses. Nach Ansicht von Karl Sartorius - einem bekannten zeitgenössischen Streiter gegen die Feuerbestattung - brach die Feuerbestattung mit der christlichen Lehre, weil diese nur das Begräbnis kannte und liturgisch auch voraussetzte.

Nicht zu Unrecht verbanden die Kirchen mit der Feuerbestattung eine gänzlich unreligiös-materialistische Vorstellung vom Körper, in der dieser als bloße Zusammensetzung einzelner Elemente galt. Der München-Freisingsche Priester Ludwig Ruland schrieb in einer "Preisschrift" 1901, dass die Einäscherung zwar keinem kirchlichen Dogma widerspräche, aber "dem gesunden menschlichen und um so mehr dem christlichen Gefühl". An anderer Stelle ging er auf die allgemein-gesellschaftlichen Gegensätze ein und führte aus: "Die Leichenverbrennung ist aber nicht bloss verwerflich, so wie sie wirklich ist, sondern auch so wie sie scheinen möchte, d.h. unter dem Deckmantel der Hygiene, weil sie in dieser verkappten Form aus ganz unzureichenden Gründen ein zu allen Zeiten sehr nebensächlich behandeltes Moment, nämlich das der Selbsterhaltung der Überlebenden, zum Leitmotive machen will, dem gegenüber die andere in der Geschichte der Totenbestattung zum Ausdruck gebrachten Ideen nicht bloss sich unterordnen, sondern als unzeitgemässe Schwächen überhaupt völlig verschwinden sollten. Sie verkennt die Würde, die auch dem entseelten menschlichen Leibe vor allen anderen Geschöpfen zukommt, und ist mit ihrem komplizierten Zerstörungsmechanismus eine alles Gefühl beleidigende Roheit ..."

Gerade weil die Kirchen zunehmend in die gesellschaftliche Defensive gerieten, erscheinen die teilweise heftigen und polemischen Gegenreaktionen um so verständlicher. Immer wieder wurde die Feuerbestattung als kulturelle "Verfallserscheinung" dargestellt, wurde der Zusammenhang von Totenbestattung und Technik als pietätlos empfunden: "Aber wenn in den feierlichen Leichenbränden der Helden auf den geschmückten Holzstößen des classischen und des germanischen Heidenthums eine gewisse Poesie mag gelegen haben, die übrigens meinem Gefühl nach weit überwogen wird durch die reale Schönheit der altchristlichen Begräbnisse, wie sie uns in den Schriften der Väter vor Augen getreten ist: so ist von Poesie doch absolut kein Stäubchen zu finden in der Verbrennungsprocedur, welcher die Leichen in den modernen Oefen unterworfen werden ..."

Offiziell bezogen die Kirchen allerdings erst relativ spät Position. Der altpreußische Evangelische Oberkirchenrat verbot 1885 zunächst jede Beteiligung von Geistlichen an einer Feuerbestattung. 1898 sprach sich die Eisenacher Konferenz der evangelischen Landeskirchen für ein Verbot der Feuerbestattung aus. Allerdings vertraten einzelne Landeskirchen abweichende Positionen. So tolerierten beispielsweise die württembergische, badische, Gothaer und hamburgische Landeskirche die Mitwirkung von Geistlichen bei Feuerbestattungen. Auch traten wichtige Amtsträger der evangelischen Kirche immer wieder öffentlich für die Feuerbestattung ein. Die Kirche der altpreußischen Union stellte schließlich in einem Erlass des Oberkirchenrats 1911 - als in Preußen ein Feuerbestattungsgesetz erstmals die Errichtung von Krematorien ermöglichte - ihren Geistlichen die Mitwirkung an einer Trauerfeier im Krematorium in Amtstracht unter gewissen Bedingungen anheim.

Die römisch-katholische Kirche erließ 1886 ein striktes Verbot der Feuerbestattung. Es betraf sowohl die Teilnahme von Kirchendienern an einer Feuerbestattung wie das Spenden von Sterbesakramenten für eine Person, die eine Feuerbestattung wünschte. Gleiches galt bereits für die bloße Mitgliedschaft in einem Feuerbestattungsverein. Dieses Verbot blieb bis in die 1960er Jahre hinein bestehen (dazu später mehr). Josef Liedhegener schrieb 1929 in seiner Dissertation über das kirchliche Begräbnisrecht, dass sich die katholische Kirche der Einäscherung strikt verweigert, "weil die Verbrennung eine heidnische Sitte ist, und heute in bewußt antichristlichem Sinne propagiert wird." An anderer Stelle heißt es, dass die Feuerbestattung " ... ihrem innersten Wesen und ihrem Zweck nach irreligiös und antireligiös" ist.

Neben der Gegnerschaft der Kirchen hatten die Anhänger der Feuerbestattung vor allem mit praktischen Einwänden zu kämpfen, nicht zuletzt von juristischer Seite. Hier lautete das Hauptargument, dass durch eine Einäscherung forensisch bedeutsames Beweismaterial unwiederbringlich verloren ginge. Im Fall eines Giftmordes beispielsweise sei eine nachträgliche Obduktion nicht mehr möglich. Außerdem gab es medizinische Unsicherheiten in Bezug auf die Todeszeichen, so dass die Verbrennung noch lebender Personen befürchtet wurde. Allerdings bot in diesen Fällen die Einführung der obligatorischen Leichenschau eine Lösung. Die Feuerbestattung, so meinten die "Krematisten", sei dann in kriminologischer Hinsicht sogar überlegen, weil mögliche Verbrechen rechtzeitig entdeckt werden könnten. Im Übrigen wurde das gerichtsmedizinische Argument Anfang des 20. Jahrhunderts dadurch relativiert, dass der Nachweis beispielsweise von Arsen in der Asche gelang.

Grundsätzlich jedenfalls sah sich die Feuerbestattungsbewegung als Träger gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritts, als Träger einer Reformidee. In ihrem Selbstverständnis vertrat sie neueste Entwicklungen von Wissenschaft und Technik. Entsprechend häufig verwendeten ihre Anhänger Begriffe wie "Fortschritt", "Zivilisation", "Vernunft" und "Wissenschaft".

Zugleich entwarfen die Anhänger der Feuerbestattungsbewegung geradezu eine Ästhetik der Einäscherung. Sie griffen dabei auf die Traditionen der römischen Antike zurück und stilisierten Asche und Urne zu Symbolen von Zivilisation und Kultur. Noch zu den anspruchsvolleren Belegen zählt folgender Auszug aus dem Gedicht "Das Verbrennen alter Zeit"" " des schwäbischen Spätromantikers, Ludwig-Uhland-Freundes und Arztes (!) Justinus Kerner: "Glaubt, am schönsten wär' noch heut'/das Verbrennen alter Zeit;/Feuer läßt zurücke keine/Totenköpf' und Totenbeine;/was als Asche kam zur Welt,/flugs als Asche niederfällt,/und zum Trutz dem kalten Tod/glüh' ein heißes Morgenrot./ Solches trägt in Himmelslüfte/über Moder, über Grüfte/eines Menschen letzten Rest,/das ist Tod nicht, - ist ein Fest!"

Jedenfalls konnte die Feuerbestattungsbewegung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg auf zunehmende Resonanz verweisen, ihre Gegner gerieten immer mehr in die Defensive. Ausdrückliche Unterstützung fanden die Krematisten übrigens bei freigeistigen und freireligiösen Gruppierungen. Die Berliner Freireligiöse Gemeinde sandte Petitionen an das preußische Abgeordnetenhaus zur Einführung der Feuerbestattung in Preußen. Auch der Bau einer eigenen Feuerbestattungsanlage wurde geplant - allerdings ergebnislos. Ebenfalls aus der Berliner Freireligiösen Gemeinde heraus wurde 1904 der "Sparverein für Freidenker zur Ausführung der Feuerbestattung" gegründet, zu dessen Vorstand auch ein bekannter sozialdemokratischer Stadtverordneter zählte. Seine zunächst wenigen Mitglieder (1910: 39; 1914: 770) verstanden die Einäscherung als eine betont atheistische und egalitäre Form der Bestattung. Wie dieser Verein, sollten später - wie zu zeigen sein wird - auch andere Feuerbestattungskassen aus dem Umfeld der Arbeiterbewegung der Einäscherung zu weiterem Aufschwung verhelfen.

Auch in anderen Staaten kämpften Feuerbestattungsanhänger für ihre Idee. Der Beginn der US- Feuerbestattungsbewegung, der übrigens von bedeutsamen Zeitschriften wie der "New York Times" aufmerksam verfolgt wurde, lässt sich mit der Gründung der "New York Cremation Society" im Jahr 1874 datieren. Rasch folgten ähnliche Gesellschaften in anderen US-Städten. Auch hier zählten vor allem Mediziner zu den Förderern, darüber hinaus bekannte Vertreter des öffentlichen Lebens wie der Schriftsteller Mark Twain. Im Unterschied zu Deutschland konnte die Asche in den USA überall hin mitgenommen werden - die Beisetzung wurde also durch die Feuerbestattung sozusagen "privatisiert". Die US-amerikanische Feuerbestattungsbewegung kämpfte übrigens - wie Stephen Prothero schreibt - weniger gegen die christlichen Kirchen, sondern war eher ein Versuch, die Trauerrituale durch die "Privatisierung" der Asche zu spiritualisieren.

Das Pionierland der Feuerbestattung war jedoch Italien. Dies überrascht auf den ersten Blick, ist das Land doch fast rein katholisch. Dennoch gab es hier - vor allem im relativ "modern" ausgerichteten, urbanisierten Oberitalien - bereits frühzeitig Initiativen, die sich für die Feuerbestattung aussprachen und auch dezidiert anti-kirchlich waren. Nach der gesetzlichen Regelung der Feuerbestattung konnte 1876 im Mailänder Krematorium die erste technische Einäscherung weltweit stattfinden. In Großbritannien gründete der bereits erwähnte Henry Thompson 1874 die "Cremation Society of England". Wegen vieler, auch politischer Widerstände dauerte es noch elf Jahre, bis das erste reguläre Krematorium - mit zunächst ebenfalls sehr geringen Einäscherungszahlen - seinen Betrieb aufnehmen konnte (1885 in Woking bei London; im Jahr 1892 folgte Manchester).

International zählte das Deutsche Reich vor dem Ersten Weltkrieg zu den führenden Staaten bei der Feuerbestattung. In einer Dissertation wurde die "staats- und volkswirtschaftliche Bedeutung" der Feuerbestattung überzeugend dargelegt. Dennoch musste die "Berliner Illustrirte Zeitung" noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts feststellen: "... allein noch immer wird das Crematorium von der überwiegenden Zahl der Bevölkerung als etwas Grausames, Heidnisches, Irreligiöses und vor allem Illusion-Zerstörendes" angesehen. Selbst Anhänger einer modernen Hygienepolitik mussten zugeben, dass breite Kreise der Bevölkerung die Einäscherung als Privileg begüterter Schichten ansahen - wie es in einem Beitrag in der "Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege" hieß. Dazu gehört die Furcht vor dem Toten als "Wiedergänger" - in isländischen Sagas (Thule XI) findet man die nachträgliche Verbrennung, um das schlimme Wirken eines wiedergängerischen Toten zu unterbinden.

Bei umherziehenden Völkern (Nomadenvölkern) hingegen war - überraschende Anklänge an das postindustrielle Zeitalter - das letzte Feuer auch eine praktische Möglichkeit, die Aschenreste überallhin mitzunehmen. Dies gilt auch für den weitverbreiteten Fall der Verbrennung gefallener Krieger, wobei hier hinzukommt, daß die Knochenasche etwas von der Macht des Verstorbenen auf den eigenen Körper überträgt.

Mit dem Buddhismus breitete sich die Brandbestattung von Indien über fast ganz Asien aus - Zeichen für die Wirkungsmächtigkeit von Religion auf die Bestattungsart. In Japan beispielsweise ist die Verbrennung die vorherrschende Bestattungsart.

Die Bevorzugung von entweder Körperbestattung oder Leichenverbrennung hängt eng mit den Jenseitsvorstellungen zusammen. Das Christentum mit seiner Lehre von der Auferstehung des Fleisches propagierte die Erdbestattung und verdammte die Feuerbestattung als heidnisch. Gleiches gilt für den Islam, wo nur die Körperbestattung vorkommt (und sogar der Sarg verpönt ist).

Die Balinesen in Indonesien hingegen glauben, durch den Verbrennungsvorgang schneller ihre Körper auf die fünf Elemente "Wasser", "Erde", "Luft", "Licht" und "Äther" verbreiten zu können. Dieser Loslösungsprozeß führt dann zur Wiedergeburt. Ein Priester muß dabei den "richtigen" Zeitpunkt der Verbrennung bestimmen - bis dahin wird der Tote konserviert. In Bali wird die Verbrennung eines Verstorbenen bis heute als regelrechtes Fest auf dem offenen Scheiterhaufen inszeniert. Der Verbrennungsort ist Schauplatz für ein kostenaufwendiges und zugleich fröhliches Einäscherungsspektakel, an dem Familienangehörige, Freunde, aber auch Tänzerinnen und "Bestattungsmänner" teilnehmen.

Die ersten Belege für die Feuerbestattung im mitteleuropäischen Raum liegen für das das Ende der mitteleuropäischen Steinzeit vor. Um 1400-1200 v. Chr. war sie in Mittel- und Nordeuropa allgemein verbreitet. Im Römischen Reich galt die Leichenverbrennung wegen ihrer hohen Kosten als soziales Privileg. Es gab immerhin die Möglichkeit zur Massenverbrennung. Die vorchristlichen Leichenverbrennungen fanden auf offenem Scheiterhaufen statt.

Mit der Ausbreitung des Christentums wurde die Feuerbestattung verdrängt und nur das Begraben des Leichnams anerkannt. Einäscherungen wurden als "heidnisch" verdammt und verfolgt. Die Gründe lagen unter anderem im Glauben an die leibliche Auferstehung und im Reliquienkult, der mit der Verehrung der Märtyrergebeine in der Alten Kirche eingesetzt hatte. Aus letzterem resultierte auch der Wunsch, in der Nähe der Reliquien beerdigt zu werden - die Kirche und der umliegende Kirchhof wurden folgerichtig zum bevorzugten Bestattungsort. Karl der Große verbot im 8. Jahrhundert n. Chr. die Feuerbestattung unter Androhung der Todesstrafe. Gleichwohl blieb sie in einzelnen, schwach oder gar nicht christianisierten Regionen Europas bis ins 13. Jahrhundert hinein üblich - so in Litauen und Westpreußen.

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