Tod, Trauer und Eros im bürgerlichen Zeitalter: Die Grabfigur der Trauernden
Norbert Fischer

in: Alexandra Lutz (Hrsg.): Geschlechterbeziehungen in der Neuzeit – Studien aus dem norddeutschen Raum. Neumünster 2005, S. 179 – 191.

1. Tod, Trauer und Eros

Wer über alte städtische Friedhöfe spaziert, entdeckt von Zeit zu Zeit eine ganz besondere Grabfigur: die „Trauernde“. Stehend, gebückt, sitzend oder in sich zusammengesunken, verrät diese so sanft und wehmütig erscheinende Figur etwas über die Gefühlswelt des bürgerlichen Zeitalters. Es ist jedoch eine höchst doppelbödige Gefühlswelt, denn neben dem ästhetisch kultivierten Schmerz zeigt die „Trauernde“ nicht selten sinnlich-erotische Züge. Eben diese Synthese von Tod, Trauer und Eros lässt diese Grabfigur zu einem charakteristischen Ausdruck der Geschlechterbeziehungen im bürgerlichen Zeitalter werden. Sie materialisiert Wünsche, Phantasien und Projektionen – im öffentlichen Raum des Friedhofs und im besonderen Spannungsverhältnis „zwischen Affekt und Inszenierung“. [1] Determiniert werden sie vom männlichen Blick: Sanft tröstende Zuwendung auf der einen Seite, sinnlich-erotische Verführung auf der anderen markieren die beiden Pole, zwischen denen die Grabfigur der „Trauernden“ oszilliert. [2]

Diese in Bronze oder Sandstein gegossene, um 1900 als industrielle Galvanoplastik auch massenhaft produzierte Grabfigur ist mehr als nur eine bloße Anekdote in der Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Ihr „Reich der Gesten“, ihre „Beredsamkeit des Leibes“ (Gisela Ecker) [3] ist nicht allein ästhetisch kultivierte Verewigung von privatem Schmerz und privater Trauer. Die „Trauernde“ zeugt von der Verunsicherung der Gefühlswelten in einem Zeitalter, deren sittliche Regeln es verboten, die unergründlichen Tiefen eigener Begierden auszuloten. [4] Was kulturell-gesellschaftliche Normen („Scham“) verhindern oder zumindest verbergen halfen, konnte sich in der ästhetischen Sublimierung der Grabfigur einen – nur scheinbar unschuldigen – Ausdruck verschaffen. Im pietätsgeladenen Raum des Friedhofs erschien die Verführungskraft des nackten Frauenkörpers gleichsam domestiziert. Der voyeuristische Blick erschien damit gesellschaftlich akzeptiert und salonfähig. So kann selbst ein zunächst mikroskopisch klein erscheinendes Phänomen wie diese Grabfigur Aufschluss geben über Geschlechterbeziehungen – oder, um es anders auszudrücken: über die „Ordnung“ von Gefühl und Sinnlichkeit zwischen den Geschlechtern.



Quellen

[1] Anna-Maria Götz, Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900, Köln u.a. 2013 (diese Arbeit erschien nach Veröffentlichung des vorliegenden Textes); es handelt sich um eine vom Verf. betreute, an der Universität Hamburg eingereichte Dissertation; Gisela Ecker, Trauer zeigen. Inszenierung und die Sorge um den Anderen, in: Trauer tragen – Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, hrsg. von Gisela Ecker unter Mitarbeit von Maria Kublitz-Kramer, München 1999, S. 9 – 25, S. 9. – An dieser Stelle sei Dr. Sylvina Zander für die kritische Durchsicht des Textes, die stetig begleitenden Diskussionen sowie beispielhafte Fotografien der „Trauernden“ gedankt. Cordelia Heß gebührt Dank für Literaturhinweise.

[2] Zur allegorischen Verkörperung von Weiblichkeit: Allegorie und Geschlechterdifferenz, hrsg. von Sigrid Schade u.a., Köln 1994; Silke Wenk, Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln 1996.

[3] Ecker (wie Anm. 1), S. 17.

[4] Zum Verhältnis von Eros und Tod: Eros und Thanatos. Die Weise von Liebe und Tod, hrsg. von Anton Szanya, Wien 1994; Jonathan Dollimore, Death, Desire und Loss in Western Culture, London 1998. – Fotografische Visualisierung bei André Chabot, Érotique du cimetière, Paris 1989; Isolde Ohlbaum, Denn alle Lust will Ewigkeit. Erotische Skulpturen auf europäischen Friedhöfen, München 1996.