8. Deich, Mythos und Gedächtnislandschaft

Gleichwohl haben die Deiche auch im 20. und 21. Jahrhundert nicht ihre symbolische Bedeutung innerhalb der Küstenkultur verloren. Aber diese Bedeutung hat sich gewandelt − der Deich ist nunmehr in die Memorialkultur eingegangen, überführt worden in die historische Erzählung. [46] Die Belege sind mannigfaltig: Vieler Orts an der Nordseeüste entstanden, wie eingangs erwähnt, deichbezogene Denkmäler oder wurden Gedenktafeln angebracht. Meist sind sie an prominenter Stelle in der Nähe des Hafens [47] oder – wie im Fall des Dithmarscher Speicherkoogs − weithin sichtbar auf einem Sielbauwerk zu finden. Auf der Insel Wangerooge erinnert ein museal aufgestelltes altes Deichschart an den Bruch des Ostgrodendeiches bei der Februarflut 1962, die Gedenktafel trägt die Inschrift: „Water is Segen – Water is Not – Lat us den Segen – Bewahr us vör Not“. In Bremerhaven wurde die 1830 gelegte Grundsteinplatte für die Deichschleuse des Alten Hafens vor der Strandhalle neu aufgestellt. In Dorum und Dorumneufeld (Land Wursten), Otterndorf (Land Hadeln) und auf der früheren Elbinsel Krautsand wurden in den letzten Jahren − ebenfalls an prominenten Stellen − Denkmäler errichtet, die an den Deichbau erinnern, oder Tafeln angebracht, die historische Sturmflut- und Deichhöhen dokumentieren.

Bisweilen sind diese Deich-Memorials eingebettet in regelrechte „Gedächtnislandschaften“. [48] In Dangast am Jadebusen beispielsweise wird mit einem Mosaik, das in das Sielbauwerk am Hafen integriert ist, an die frühneuzeitliche Durchdämmung des Ellenser Bracks erinnert. Zugleich weisen in der näheren Umgebung mehrere markante Sturmflutsteine auf die bedrohliche Nähe zu den Meeresfluten hin. Eine besonders anschauliche „Gedächtnislandschaft“ entstand in Eckwarderhörne, dem westlichsten Ort der zwischen Weser und Jadebusen gelegenen Halbinsel Butjadingen. Nach dem Abschluss von Deichbaumaßnahmen in den Jahren 1990 – 1994 wurde vom zuständigen Deichverband, dem so genannten II. Oldenburger Deichband, ein fast futuristisch anmutendes Denkmal errichtet. Dessen sechs Tafeln stellen in kartografisch vereinfachter Form das Vordringen des Meeres an Jade und Weser dar, symbolisiert an einzelnen Katastrophenfluten wie der Marcellusflut 1362 und der Antoniflut 1511, als der angrenzende Jadebusen nach neuerlichen Landverlusten seine bislang größte Ausdehnung erfuhr. [49] Die Begleitbroschüre berichtet in pathetischer Diktion: „Das aufgestellte Objekt stellt symbolisch dar, wie das ständig anrollende Meer gegen die seit Jahrhunderten von Menschenhand immer wieder erhöhten Deiche brandet“. [50] Dieser auf den Karten als bedrohlicher Landverlust dargestellten Entwicklung steht der neuzeitliche Deichbau entgegen, der dem Meereswüten Einhalt gebieten soll. Verkörpert wird das Eindämmen der Fluten durch ein weiteres Denkmal, das dem früheren Deichbandsvorsteher Anton Hullmann gewidmet ist. In seiner ursprünglichen Form Ende der 1950er-Jahre errichtet, war es in den 1990er-Jahren wegen schwerer Witterungsschäden nicht mehr restaurierbar und wurde Mitte der 1990er-Jahre erneuert. In Form einer anbrandenden Welle gestaltet, zeigt es im Porträt jenen Anton Hullmann, der als Deichverbandsvorsitzender in den 1950er-Jahren die ersten umfangreichen Küstenschutzmaßnahmen in dem betreffenden Gebiet durchführen ließ. Wie die Begleitbroschüre vermeldet, gilt Hullmann vor Ort als „Motor für den Küstenschutz“. [51]

Wie auch immer diese Memorials in die Landschaft integriert sind – sie unterstreichen die hohe symbolische Bedeutung des Deiches innerhalb der Küstenkultur. Mit ihnen ist der Deich in die kulturelle Ökonomie der Küste eingegangen und zählt zu ihren „besonderen Orten“ (Detlev Ipsen). [52] Wie der Leuchtturm, so ist auch der Deich zum Synonym für die Nordsee geworden. Die an ihren prominenten Plätzen weithin sichtbaren Denkmäler erinnern Einheimische, Zugezogene und Touristen symbolisch an die historischen Epochen des Deichbaues. Aber sie vermitteln zugleich eine spezifische Sicht auf den Deich, denn sie zelebrieren ihn als scheinbar identitätsstiftenden Mythos [53] – der Deich wird hier zum „Gemeinschaftswerk“ aller Küstenbewohner verklärt. Das ursprüngliche Interesse, landwirtschaftliche Nutzflächen zu gewinnen und zu sichern, ist längst in den Hintergrund getreten, ja, dem Vergessen anheim gefallen. So ist der Deich ein landschaftliches Element, mittels dessen sich an der Nordseeküste eine neuartige „Aneignung der Vergangenheit“ vollzieht. [54] Sie erfolgt über die Platzierung plakativer Symbolik – Denkmäler, Erinnerungstafeln – an zentralen Plätzen der Küste.

In ihrer symbolischen Funktion sind diese Denkmäler nicht zuletzt Instrument jenes Identitätsmarketings, [55] das sich im Werben um Touristen entfaltet hat. Sie reihen sich ein in die Sturmflutmarken und maritimen Technikdenkmäler, durch die manche Orte an der Nordsee inzwischen museal möbliert wirken – der alte Hafen des Seebades Büsum (Dithmarschen) mag als eines von vielen Beispielen gelten. [56] Auch der Deich ist zum Label einer gezielt produzierten, nach außen zur Schau gestellten regionalen „Identität“ geworden – zum bedeutsamen Element innerhalb einer wohlgestylten „Inszenierung der Küste“.

Bisweilen sind die Belege für die Mythologisierung des Deiches von geradezu anekdotischem Charme. Dies mag abschließend folgende, aus heutiger Sicht fast kurios erscheinende Episode aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentieren. Bei einer turnusmäßigen Deichschau am Hadelner Seedeich starb im Frühsommer 1948 der amtierende Landrat des betreffenden Kreises Land Hadeln. Dieser Tod wurde als in hohem Maß symbolisch begriffen. Nicht nur, dass die zuständigen Gremien beschlossen, an der betreffenden Stelle einen Gedenkstein in den Deich einzulassen. Darüber hinaus war die wenige Monate später erfolgende Einweihung des Gedenksteins mit einer prominent besetzten Trauerfeier für den verstorbenen Landrat verbunden. Hauptredner war der damalige niedersächsische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf – selbst aus dem Land Hadeln stammend, war er mit der Mentalität der Marschenbevölkerung bestens vertraut. Laut Protokoll sagte der Ministerpräsident auf dem Höhepunkt seiner Trauerrede: „Ich möchte Dich um diesen Deinen Tod hier auf dem Deich mitten im Dienst für Deine Heimat direkt beneiden.“ [57]



Quellen

[46] Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 309, schreibt über „Gedenkorte“, dass sie eine „eklatante Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart kennzeichnen … Um dennoch fortzubestehen und weiter gelten zu können, muß eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ersetzt.“

[47] Zum Beispiel in Dorumerneufeld (Land Wursten).

[48] Dieses Phänomen wird von Verf. derzeit innerhalb des Forschungsprojektes „Inszenierungen der Küste“ untersucht (Isa-Lohmann-Siems-Stiftung/Universität Hamburg).

[49] Kein Land ohne Deich. Kein Deich ohne Land. Deichschutz im Bereich Eckwarderhörne. Hrsg. v. II. Oldenburgischen Deichband. o. O. o. J., S. 10 – 15.

[50] Ebd., S. 8.

[51] Ebd., S. 16.

[52] Detlev Ipsen, Vom allgemeinen zum besonderen Ort – Zur Soziologie räumlicher Ästhetik; in: Raumästhetik, eine regionale Lebensbedingung. Bonn 1988, S. 13 – 33.

[53] Zur Mythenbildung an der Küste u.a. Manfred Jakubowski-Tiessen, „Trutz, Blanker Hans“. Der Kampf gegen die Nordsee, in: Bea Lundt (Hg.): Nordlichter. Geschichtsbewusstsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe, Köln/Weimar /Wien 2004, 67−84; Martin Rheinheimer, Mythos Sturmflut. Der Kampf gegen das Meer und die Suche nach Identität, in: Demokratische Geschichte 15, 2003, S. 9−58.

[54] Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.) Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004; Eschebach, Gedenken (wie Anm. 2), S. 16 – 17 und S. 19.

[55] Thomas Küster, Regionale Identität als Forschungsproblem; in: Westfälische Forschungen 52, 2002, S. 1 – 44.

[56] ReiseLeseHandbuch Büsum, Heide o. J., S. 20 – 22 und S. 58.

[57] Protokoll Frühjahrsdeichschau Hadelner Elbdeich vom 17. Juni 1948; Protokoll der Generaldeichschau des Hadler Deich- und Uferbauverbandes vom 1. November 1948; beide in: NLA/StA Stade (wie Anm. 1), Rep. 97 Stade, Nr. 717.