- 1. Ein Monument am Meer
- 2. Das Primat der Agrarökonomie
- 3. Der Deich als gesellschaftliches Status-Symbol
- 4. Im Zwischenreich: Deich und räumliche Differenzierung
- 5. Die Eroberung des Außendeiches
- 6. Auflösung der Grenze:
Sturmfluten und die Wiederkehr des Amphibischen - 7. Der Deich als Festung: Über Stackwerke
- 8. Deich, Mythos und Gedächtnislandschaft
- Resümee
4. Im Zwischenreich: Deich und räumliche Differenzierung
Bekanntlich folgt dem Deich seewärts nur selten sogleich das Meer. Vielmehr existiert häufig ein bisweilen kilometerbreites Vorland − das so genannte Außendeichsland, das gelegentlich von Sturmfluten überschwemmt wurde. In diesem Außendeich waren die wirtschaftlichen Besitzverhältnisse häufig unklar. Stellenweise griffen hier nicht einmal neuzeitlich-staatliche Rechtsnormen. Meist diente das Außendeichsland der sommerlichen Viehweide. An besonders hoch aufgeschlickten Stellen war sogar der Anbau von Sommergetreide, waren auch provisorische Bauten möglich. Im Übrigen aber war der Außendeich von immer wieder mit Wasser volllaufenden, mäandernden Prielen durchzogen.
Mit diesem amphibischen „Zwischenreich“ erweist sich die Grenze zwischen Land und Meer erst recht als differenziert. Der Außendeich bildete einen krassen Gegensatz zum eingedeichten, kultivierten Binnenland – Letzteres erschien dem Betrachter mit seinen schnurgeraden Entwässerungsgräben gegenüber dem Außendeich geradezu als System ausgeklügelter Ordnung: „Es ist,“ so notierte der Bremer Geograph Johann Georg Kohl Mitte des 19. Jahrhunderts, „als wenn man aus den Mauern und Befestigungen einer Stadt in ihre Vorstädte träte. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Deiches … macht … die Physiognomie der Landschaft anders.“ [17]
In der Tat scheint diese Stadt-Vorstadt-Analogie durchaus schlüssig, wie neuere Studien nahelegen − etwa die Arbeit von Klaus Schüle über die „kulturelle Konstruktion der französischen Metropole“ Paris oder die Studie von Wolfgang Maderthaler und Lutz Musner zu Wien und die „Anarchie der Vorstadt“. [18] So wie sich in Wien die Stadt-Vorstadt-Beziehung als Gegensatz von „Ordnung“ und „Chaos“ manifestierte, so schied auch der Deich das „zivilisierte“, von geregelten Normen und reißbrettartiger Ordnung geprägte Binnendeichsland vom unkultivierten, wilden, ja archaischen Außendeich. Nicht zufällig gab man dem Außendeich manchmal sprechende Flurnamen wie Blomsche Wildnis oder Engelbrechtsche Wildnis. [19]
Diese „projektive Segmentierung“ [20] des Küstenraumes erwies sich als gesellschaftliches Programm. Nur was eingedeicht war, schien eindeutig beherrschbar. Die Außendeichsflächen dagegen wurden in der Frühen Neuzeit marginalisiert und stigmatisiert: Dort wurde unehrenhaft bestattet (zum Beispiel Strandleichen), dort stand hin und wieder der Galgen. [21] So war der Außendeich gleichsam das „Andere“ der prosperierenden, blühenden Marschengesellschaften – das wilde, archaische und „gestaltlose Andere“. [22]
Hier zeigen sich also kulturelle Polaritäten, die symbolisch hoch aufgeladen und auch anderenorts aus der Kulturgeschichte bekannt sind: Immer wieder wurden künstlich fruchtbar gemachte Landstriche zu „blühenden Gärten“, ja regelrechten „Paradiesen“ verklärt, die sich selbst überlassene Umgebung umgekehrt als „Ödnis“ und „Wüstenei“ abgewertet. Der amerikanische Stadtsoziologe Mike Davies hat diese projektive Segmentierung beispielsweise für den Großraum Los Angeles beschrieben. [23]
Als symbolische Grenze produzierte der Deich, so lässt sich zwischenzeitlich resümieren, eine komplexe Differenz und Distanz – räumlich, gesellschaftlich, kulturell. Repräsentierte das eingedeichte Marschenland Herrschaft, Kultur und Zivilisation, so erwies sich das „wilde“ Außendeichsland demgegenüber als ein „Kosmos sozialer und kultureller Marginalität“. [24] Hier zeigt sich jene relationierende Wirkung eines artefaktischen Symbols wie des Deiches, von der Rudolf Schlögl spricht, wenn er ihnen eine „besondere Perspektivierung“ für den soziokulturellen Raum zubilligt [25] – es war die ökonomische Perspektive des führenden Marschenbauerntums, die dergestalt die Küste strukturierte und segmentierte.
Quellen
[17] Johann Georg Kohl, Reisen durch das weite Land. Nordwestdeutsche Skizzen 1864, hg. von Geert Demarest, Stuttgart/Wien 1990, S. 226.
[18] Klaus Schüle, Paris: Die kulturelle Konstruktion der französischen Metropole. Alltag mentaler Raum und sozialkulturelles Feld in der Stadt und in der Vorstadt, Opladen 2003, vor allem S. 187 – 190; Wolfgang Maderthaler/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/M./New York 2000 (2. Aufl.).
[19] So in den holsteinischen Elbmarschen.
[20] Maderthaler/Musner, Anarchie (wie Anm. 17), S. 14.
[21] Beispiele bei Michael Ehrhardt, Zur Geschichte der Deiche im Alten Land, Stade 2003, S. 422 – 23; zu unehrlicher Bestattung und unehrlichen Räumen vgl. neuerdings Sylvina Zander, „Durch die Hand geschändet“ – Der Körper als Grenze zwischen Ehrlichkeit und Unehrlichkeit, in: Martin Rheinheimer (Hrsg.), Grenzen in der Geschichte Schleswig-Holsteins (erscheint Neumünster 2006) sowie Sylvina Zander, Von ‚Schinderkuhlen’ und ‚Elendenecken’. Das unehrliche Begräbnis vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, in: Norbert Fischer/Markwart Herzog (Hrsg.): Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden, Stuttgart 2005, S. 109 – 124.
[22] Maderthaler/ Musner, Anarchie (wie Anm. 17), S. 88.
[23] Mike Davies, Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe. München 1999, S. 18 – 19. – Ich danke Dr. Sylvina Zander für diesen Hinweis.
[24] Siehe die vergleichbaren Überlegungen zum Verhältnis Zentrum-Peripherie bei Maderthaler/Musner, Anarchie (wie Anm. 17), S. 86 – 87.
[25] Schlögl, Symbole (wie Anm. 9), S. 16.