6. Auflösung der Grenze:
Sturmfluten und die Wiederkehr des Amphibischen

Gleichzeitig ist der Deich in seiner Funktion als Grenze immer wieder bedroht gewesen ist. Meist waren es Sturmflutkatastrophen, manchmal auch veränderte Strömungsverhältnisse, die zur Aufgabe von Deichen und Rückdeichungen zwangen. Das Wasser gewann dann seine Herrschaft zurück, bereits eingedeichtes Land wurde wieder amphibisch – ohne feste Grenze zwischen Land und Meer. Gerade die Sturmflutkatastrophen zeitigten über Jahrhunderte hinweg an der Küste ihr tragischen Folgewirkungen: „Hunderte von Toten, das mit grosse[m] getümmel ersäuffte Vieh, zerstörtes Haus, Hab und Gut ließen die Marschenbewohner immer wieder eine tiefe Hertzens Traurigkeit empfinden,“ hieß es beispielsweise in einer Quelle aus dem späten 17. Jahrhundert. [30]

Mentalitätshistorisch ist aufschlussreich, dass sich die Wahrnehmung der Sturmfluten im Verlauf der Neuzeit änderte. Seit dem 17. Jahrhundert zeigte sich bisweilen ein hohes Maß an alltagspraktischem, aus konkreter Erfahrung gewonnenen Nützlichkeitsdenken. Es prägte den Umgang mit dem Wasser und nicht zuletzt mit Sturmflutkatastrophen stärker als der häufig konstatierte religiös-gottergebene Fatalismus. Wie Quellen von der Niederelbe belegen, wurde beispielsweise die Sturmflutkatastrophe 1685 weniger als „göttliches Strafgericht“ betrachtet, sondern eher als praktisches Problem. [31] Im 18. Jahrhundert wurde im ersten systematischen Deich-Handbuch, das in Deutschland verfasst wurde (1754/57), endgültig jener utilitäre Optimismus offenbar, der Sturmfluten als technisch beherrschbare Ereignisse sah: „Es ist eine Wasserfluth nicht ein Wunderwerk, sondern hat ihre in der Natur gegründete Ursachen, wie ja wol keiner leugnen wird, der erkennet, was es für eine Eigenschaft in GOTT sey, die wir die Weisheit nennen, so kann ihr, weil der HERR der Natur keine unendliche, sondern nur eine endliche Kraft beygeleget hat, auch durch eine endliche Kraft, dergleichen der Menschen ist, wol widerstanden werden; mithin die Bemühung, sich dawider Sicherheit zu verschaffen, ihren gewünschten Endzweck erreicht,“ hieß es bei Albert Brahms. [32] Gleichwohl blieben die Sturmfluten eine stete Bedrohung. Neben der Weihnachtsflut 1717, deren tragische Folgewirkungen nicht zuletzt Albert Brahms zu seinem Deichbau-Handbuch angeregt hatten, zählte die Sturmflutkatastrophe vom 3./4. Februar 1825 zu den folgenreichsten „Wassersnöten“ der Neuzeit. Diese Februarflut fand übrigens auch literarisch ihren Niederschlag – um nur zwei prominente Beispiele zu nennen: Johann Wolfgang von Goethe ließ sie in sein „Faust II“-Projekt einfließen, [33] Theodor Storm in die Novelle „Carsten Curator“. [34]

Besonders deutlich erscheint die brachiale Auflösung der Grenze zwischen Land und Wasser, die Sturmfluten hervorrufen konnten, jedoch im Fall des so genannten Wischhafener Grundbruch. [35] Er war eine Folge der Weihnachtsflut 1717 und ließ für rund 25 Jahre wie eine offene Wunde die Fluten ins Land − der betroffene Raum nahe der Elbmündung wurde wieder amphibisch. Trotz extrem arbeits- und finanzaufwändiger Bemühungen konnte dieser Grundbruch von den Deichpflichtigen nicht repariert werden. Mehrere hundert Hektar Fläche blieben regelmäßig Überschwemmungen ausgesetzt, während der Rest des Landes durch besondere, bis ans Moor reichende Flankendeiche – die heute noch im Landschaftsbild sichtbaren „Defensionsdeiche“ – geschützt wurde. Zahlreiche Höfe und Häuser mussten aufgegeben werden. Letztlich kaufte die kurhannoversche Regierung das Land an und deichte es 1742, also 25 Jahre nach der Flutkatastrophe, unter Umgehung des bei der Stumflut entstandenen, wegen untergründiger Schwemmsände schwer berechenbaren Kolks mit hohem Kostenaufwand ein. Das vom Staat neu eingedeichte Land wurde zur Domäne, die Ländereien anschließend verpachtet. 1746 schuf Kurhannover hier – inmitten einer immer noch weitgehend autonomen Landesgemeinde Kehdingen – das staatliche Amtes Wischhafen. Der Deich aber war nun gegenüber der früheren Linie ins Landesinnere zurückverlegt worden.



Quellen

[30] Bitte der kontribuablen Eingesessenen Landes Kehdingen bützflethischen Teils (ohne Datum, präsentiert 4. Dezember 1685), in: NLA/StA Stade (wie Anm. 1), Rep. 5a, Fach 276, Nr. 3.

[31] Manfred Jakubowski-Tiessen, Gotteszorn und Meereswüten, in: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003, S. 101 – 118; zur Wahrnehmung einer einzelnen Sturmflutkatastrophen des 17. Jahrhunderts vgl. Boy Hinrichs/Albert Panten/Guntram Riecken, Flutkatastrophe 1634. Natur − Geschichte − Dichtung, Neumünster 1991 (2. Auflage), S. 81 – 105.

[32] Albert Brahms, Anfangs-Gründe der Deich- und Wasser-Baukunst, Teil 1 und 2, Leer 1989 (Nachdruck der Ausgabe Aurich 1767/1773 (Erst-Veröffentlichung 1754/57), S. 37.

[33] Hartmut Böhme, Eros und Tod im Wasser – „Bändigen und Entlassen der Elemente“. Das Wasser bei Goethe, in: ders. (Hrsg.), Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt/M. 1988, S. 208 – 233, hier S. 219ff.

[34] Theodor Storm, Carsten Curator. Text, Entstehungsgeschichte, Quellen, Schauplätze, Aufnahme und Kritik, hg. von Karl Ernst Laage. Heide 1994, S. 71 – 75; zur Erläuterung des Hintergrunds siehe ebd., S. 104 – 107.

[35] Richard Toborg, Die Weihnachtsflut von 1717: mit dem schweren Grundbruch in Wischhafen; Dichtungsversuche an der Bracke von 1718 – 1720 – wie sie scheiterten; Kosten und Folgen für Kurhannover, das Land Kehdingen und das Kirchspiel Hamelwörden (jetzt Gemeinde Wischhafen). o. O. [Wischhafen] 2004; allgemein vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit, München 1992.