7. Der Deich als Festung: Über Stackwerke

Nicht überall musste man im 18. Jahrhundert vor den Fluten zurückweichen. Es war an der deutschen Nordseeküste nämlich die Epoche von prophylaktischen Deich- und Ufersicherungsmaßnahmen. Damit wurden die Deiche zu regelrechten Festungen ausgebaut. Dies geschah beispiel- und symbolhaft durch das so genannte „Stackwerk“ – ein, wie es in Georg Samuel Benzlers Deichlexikon von 1792 wörtlich hieß, „ … in den Strom … gebautes prismatisches Werk, bald länger, bald kürzer, je nachdem solches die Localumstände erfordern“. [36] Solche Stackwerke beruhigten die Fluten, sie brachen die Wellen oder lenkten Strömungungen vom Ufer und von den Deichen ab.

Besondere Wirkung zeigten sie beispielsweise, wo die Strömung stark und das Deichvorland schwach ausgebildet war. Dies gilt für die Elbmündung, wo frühzeitig Stackwerke errichtet wurden. Aufschlussreich ist hier zudem, dass unterschiedliche Territorialherrschaften für einen wechselseitigen deichbautechnischen Einfluss sorgten. Den Anfang machte das direkt an der Elbmündung gelegene und von starken Strömungen besonders betroffene hamburgische Amt Ritzebüttel (heute Cuxhaven). Ursprünglich, im späten16. und frühen 17. Jahrhundert, hatte man mit hohem Kapitalaufwand großzügig bemessene Neueindeichungen vorgenommen, um landwirtschaftliche Nutzflächen zu gewinnen (in diesem Zusammenhang entstand übrigens Cuxhaven 1618 als einer der ersten Sielhäfen an der deutschen Nordseeküste). Anschließend jedoch mussten die kilometerweit vorgeschobenen Deichlinien nach Sturmfluten und durch die Verlagerung des Elbstromes nach Süden immer weiter zurückgenommen werden. Im Verlauf dieser Entwicklung gewann der Hadler Seebandsdeich, der im Zusammenhang mit den Vordeichungen zum „Schlafdeich“ [37] geworden war, seine alte Funktion als seewärtiger Hauptdeich teilweise wieder zurück. [38] Nach diesen negativen Erfahrungen mit immer neuen Rückdeichungen im 16. und 17. Jahrhundert sowie nicht zuletzt der verheerenden Weihnachtsflut von 1717 begann Hamburg in den 1720er-Jahren, seine Ufer und Deiche an der Elbmündung systematisch durch Schutzwerke zu sichern. 1733 setzte der Hamburger Senat in Ritzebüttel eine besondere, als „Stackdeputation“ bezeichnete Behörde ein, die künftig für diese Aufgabe verantwortlich zeichnete. Im selben Jahr wurden vor dem Ritzebütteler Deich auch kostenwändige „Steinuferwerke“ errichtet, also schützende Deckwerke. Zu diesen Sicherungswerken zählt übrigens auch die heute als Aussichtsplattform zwischen Elbmündung und offener See bekannte „Alte Liebe“ − 1732/33 als Bollwerk mit Steinböschung zum Schutz von Ufer und Deichen gebaut, zählt sie heute zu den Wahrzeichen Cuxhavens. [39]

Im benachbarten Land Hadeln, dessen historische Entwicklung seit dem hohen Mittelalter gänzlich anders verlaufen war und das – bei weitreichender politisch-gesellschaftlicher Selbstverwaltung – formell seit 1731 zum Kurfürstentum (später Königreich) Hannover gehörte, begann die Anlage von Stackwerken und Steindecken in den 1780er-Jahren. [40] Im Vergleich zum hamburgisch beherrschten Ritzebüttel, dessen Erfahrungen – personifiziert im späteren Wasserbaudirektor Reinhart Woltman – fraglos eine bedeutsame Rolle spielten, war dies zwar deutlich später, im Vergleich zu anderen benachbarten Marschenländern des Elbe-Weser-Raumes jedoch relativ frühzeitig. Auf das Problem selbst, das auch hier durch die Verlagerung des Elbstromes – und damit der Gezeiten – in Richtung des Hadelner Ufers ausgelöst wurde, war man auf Grund des fortschreitenden Uferabbruches schon nach der Sturmflut 1756 aufmerksam geworden. Ein 1775 beschlossener Stackwerksbau scheiterte zunächst, weil sich die für Deich- und Uferschutz zuständigen Hadelner Kirchspiele nicht über die Finanzierung einigen konnten. Angesichts der stetig wachsenden Gefahr des Abbruchs setzten die so genannten Stände Landes Hadeln – als gesellschaftlich-politische Repräsentanz dieses Marschenlandes − durch, dass der Stackwerksbau auf Darlehensbasis beginnen konnte. Trotz enorm hoher Kosten, die letztlich von den Deichpflichtigen aufgebracht werden mussten, wurden die Ufersicherungsarbeiten über Jahrzehnte hinweg fortgesetzt. [41]

Der Stackwerksbau geschah dabei auf zweierlei Art: Zunächst rammte man – quer zum Deich – eine Kette von Pfählen, die mit Buschwerk gefüllt wurden, hinaus ins Wasser. Später kamen an einigen Stellen auch längs zum Deich verlaufende „Buschbetten“ hinzu, um die Strömung abzuhalten. Die Sicherungsmaßnahmen waren erfolgreich, selbst die Sturmflutserie 1791/92 konnte den Stackwerken nichts Wesentliches anhaben. Gleichwohl wollte man weiter vorsorgen und nahm – mit gutachterlicher Unterstützung des bereits erwähnten Hamburger Wasserbauexperten Woltman − die Sicherung des Ufers mit Steinen in Angriff. Auch dies geschah zweifach: Zum einen durch die Abdeckung des Ufers mit dicht belegtem Steinwerk, zum anderen durch den Bau eines weit in die Strömung hineinragenden, mit Steinen gefüllten Stacks. Dieses als „Glameyers Stack“ bekannte, nach dem anliegenden Hofbesitzer benannte Sicherungwerk wurde 1802 mit hohem Kostenaufwand fertiggestellt. Als wasserbautechnisches Monument und Symbol der Deich- und Ufersicherung erfüllt es seine Funktion bis heute. [42]

Im Zuge dieser Deich- und Uferbefestigungen kam es übrigens zur schrittweisen Verstaatlichung im Deichwesen − je nach Territorium zeitlich-historisch unterschiedlich, zumeist aber seit dem 18. Jahrhundert. Dies markierte eine Zäsur, indem der Beginn des modernen Küstenschutzes im heutigen Sinn mit dem professionalisiertem Wasserbauingenieur als staatlichem Beamten eingeläutet wurde. Die Folgen der Sturmflutkatastrophe von 1825 verschärften dann zusätzlich die staatliche Einflussnahme und zogen einige grundlegende, die regionalen Küstengesellschaften nachhaltig beeinflussende Veränderungen in der Organisation des Deichwesens nach sich. Inzwischen ging es – auch angesichts der ganz allmählich abflauenden Dominanz der Agrarwirtschaft – immer mehr darum, die sich ausdehnenden Städte und Ortschaften zu schützen. Einst in ihrem Kern auf überschwemmungssicheren Großwurten angelegt, hatten sich die Siedlungen im Laufe der Jahrhunderte in der flachen Marschlandschaft ausgebreitet. Die hier versammelten Menschen wie auch Sachwerte waren auf den Schutz durch Deiche angewiesen – und dieser Schutz wurde zunehmend als staatliche Aufgabe gesehen. Dies bedeutete eine wesentliche Zäsur in der Wahrnehmung des Deiches. Der Deich verlor tendenziell seine ursprüngliche agrarökonomische Funktion und wurde zu einem Baustein öffentlicher Infrastruktur. Hinzu kam, dass die im Zuge der Industrialisierung aufkommende Technikeuphorie des 19. Jahrhunderts ein weiteres Mal die menschliche Erfahrung der Naturgewalten veränderte. Zunehmend meinte man, sich auch an der Küste der technischen „Überlegenheit über die Natur“ sicher sein zu können. [43]

Andererseits vergrößerten die im Verlauf der Neuzeit immer weiter gestiegene Höhe des Deiches an der Nordseeküste – im 19. Jahrhundert stellenweise über sechs Meter, heute acht bis neun Meter − auch die potentiellen Folgen eines Deichbruchs. Da ein den Wasserdruck abschwächendes Überlaufen der Deiche nicht mehr möglich war, zogen selbst einzelne Grundbrüche schwere Schäden nach sich – das angestaute Wasser strömte mit ungeheurer Wucht ins Binnenland. So paradox es klingt: Erst die zunehmende Erhöhung und Befestigung der Deiche rief eine historisch zuvor unbekannte Furcht um die Siedlungen, Leben, Hab und Gut hervor – darauf wies jüngst der niederländische Küstenhistoriker Otto Knottnerus hin. [44] Hatte man sich in früheren Jahrhunderten noch auf ein gelegentliches Überlaufen der Deiche eingestellt und war mit dem Wasser gleichsam vertraut, so schienen nun die zur Festung ausgebauten Deiche einen so vollständigen Schutz zu versprechen, dass der Schock der Flutkatastrophen des 20. Jahrhunderts umso tiefere Spuren in der Mentalität der Küstenbevölkerung hinterließ.

Damit sind wir in der Gegenwart angelangt. Seit dem späten 20. Jahrhundert ist ein weiterer Aspekt hinzugetreten, der die Rolle des Deiches als Grenze grundlegend verändert hat und hier nur angedeutet werden kann: der Naturschutz. Deichlinien werden aus Gründen des Naturschutzes wieder zurückverlegt, schon eingedeichte Flächen nicht mehr bewirtschaftet – eine „Wieder-Verwilderung“ der Binnendeichsflächen ist die bemerkenswerte Folge. Statt intensivierter Agrarwirtschaft bleiben sie teilweise sich selbst überlassen, werden höchstens zur Viehweide genutzt und dienen im Übrigen den Küstenvögeln als Nahrungs-, Brut- und Rastraum. Ihre räumliche Struktur verändert sich dadurch erneut: Die schnurgeraden Entwässerungsgräben verschlicken, die Binnendeichsflächen gleichen sich tendenziell dem Außendeich an. [45]

Auch diese Wieder-Verwilderung des Binnendeichslandes zeigt, dass der Deich mittlerweile seine ursprüngliche agrarökonomische Funktion ebenso verloren hat wie die Landwirtschaft ihre einstmals überragende gesellschaftliche Bedeutung für die Nordseemarschen. Größere Eindeichungsprojekte sind politisch kaum noch durchsetzbar und ökonomisch unsinnig. Im Gegenteil: Mancherorts wird über die Öffnung oder Rückverlegung von vorgeschobenen Deichen nachgedacht, um ökologische Ausgleichsflächen zu gewinnen.



Quellen

[36] Georg Samuel Benzler, Lexikon des Deich- und Wasserbauwesens, 1792, Band II, S. 183.

[37] Als „Schlafdeich“ werden frühere Hauptdeichlinien bezeichnet, die durch Vordeichungsmaßnahmen ihre ursprüngliche Funktion verloren haben.

[38] [Otto] Meier, Das Deichrecht im Amte Ritzebüttel. Cuxhaven o. J. [1923]. Ungedrucktes Typoskript, S. 28 – 29 (Archiv des Landkreises Cuxhaven [ALC]).

[39] Auch der Kugelbakendamm als westlich davon gelegene Ufersicherung ist erhalten geblieben.

[40] Zur Geschichte von Sturmfluten und Deichbau im Land Hadeln vgl. demnächst Norbert Fischer, Im Antlitz des Meeres. Zur Geschichte der Deiche in Hadeln (erscheint Stade 2006).

[41] [August] Peche, Geschichte des Hadler Deiches und des Hadler Deichrechts. Otterndorf 1931, S. 16ff.

[42] Archiv des Landkreises Cuxhaven (ALC), Kirchspielsgericht Westerende Otterndorf VI A 5 Loc. 21 Nr. 7; ebd., Kirchspielsgericht Westerende Otterndorf VI A 5 Loc. 21 Nr. 8

[43] Gernot Böhme/Hartmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 278.

[44] Knottnerus, Deich- und Sielbautechniken (wie Anm. 7). S. 162.

[45] Zu Beispielen aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen vgl. Robert Tarnow/Peter Petersen/Karl Petersen, Speicherkoog Dithmarschen. Ein neuer Deich verändert die Landschaft. Meldorf o. J. (1978), S. 110 – 117; Gerd-Michael Heinze. Ziele und Maßnahmen des Naturschutzes an der Niederelbe im Land Niedersachsen; in: Hans-Eckhard Dannenberg/Norbert Fischer/Franklin Kopitzsch (Hrsg.): Land am Fluss. Beiträge zur Regionalgeschichte der Niederelbe (erscheint Stade 2005).