- 1. Ein Monument am Meer
- 2. Das Primat der Agrarökonomie
- 3. Der Deich als gesellschaftliches Status-Symbol
- 4. Im Zwischenreich: Deich und räumliche Differenzierung
- 5. Die Eroberung des Außendeiches
- 6. Auflösung der Grenze:
Sturmfluten und die Wiederkehr des Amphibischen - 7. Der Deich als Festung: Über Stackwerke
- 8. Deich, Mythos und Gedächtnislandschaft
- Resümee
5. Die Eroberung des Außendeiches
Dies gilt auch, wenn man konstatiert, dass der Außendeichraumes im Verlauf der Neuzeit tendenziell seine „Wildheit“ verlor. Wo immer es dank verbesserter Deichbautechnik möglich war, wurde das außendeichs angewachsene Land eingedeicht und der landwirtschaftlichen Nutzung zugänglich gemacht. Dies rief wiederum neue, gesellschaftlich und politisch motivierte Konflikte hervor. Die rechtliche Frage, wem das Außendeichsland eigentlich zustand, wurde an der territorial vielfältig aufgesplitterten deutschen Nordseeküste durchaus unterschiedlich beantwortet. In Ostfriesland beispielsweise gehörte es dem Landesherren. In den kleinen, an der Elb- und Wesermündung gelegenen Landesgemeinden wie Wursten, Hadeln und Kehdingen hingegen beanspruchten die anliegenden Marschenbauern die Flächen für sich: „Das Eigentum an dem neugebildeten Land stand demjenigen zu, dem das am Deiche angrenzende Binnenland gehörte. Bildete sich am Außendeichland selbst neuer Anwachs, so fiel er in das Eigentums des Eigentümers des Außendeichlandes“, vermerkt Reinhard Schulze in seiner Studie zum Deichrecht im Land Kehdingen. [26]
Gerade in Kehdingen, dessen gesellschaftlich-politische Strukturen bis weit in die Neuzeit hinein von einer relativen Autonomie gegenüber den wechselnden Landesherrschaften geprägt war, lässt sich die symbolische Rolle des Außendeiches besonders gut veranschaulichen. Hier wurde dieser Raum zum Schauplatz für das spannungs- und konfliktreiche Verhältnis zwischen dem über Jahrhunderte hinweg relativ autonomen Marschenland Kehdingen mit seinen − oben bereits charakterisierten − gleichsam aristokratischen Gutsbesitzern einerseits sowie der staatlichen Obrigkeit andererseits. Es ging dabei um prinzipielle Fragen von politischer Macht, tradierten Rechten und Privilegien, nicht zuletzt aber um den Versuch, das als partikularistisch, ja widerständig wahrgenommene Kehdingen im 19. Jahrhundert in das bürokratisch-normierende Gefüge des „modernen“ Staates zu integrieren. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden im nördlichen Kehdingen mehrere tausend Hektar Außendeichsland mit so genannten Sommerdeichen versehen. Solche Sommerdeiche schützten zwar nicht vor den winterlichen Sturmfluten, erlaubten jedoch eine Bewirtschaftung im Frühjahr und Sommer. Die Flächen vor dem Nordkehdinger Elbdeich waren auf Grund der Aufschlickungen, die durch die regelmäßigen Überflutungen entstanden waren, äußerst fruchtbar. Ihre Größe umfasste im 19. Jahrundert mehrere tausend Hektar. [27] Dieser Anwachs erregte immer wieder das Erstaunen der Zeitgenossen – Fridrich Arends berichtete in seiner 1833 erschienen Studie zur Nordseeküste: „Von Freiburg an, wo die Elbe sich grade gen Westen wendet, ging der Strom sonst näher dem südlichen Ufer hin, später wandte er sich mehr dem nördlichen Ufer zu. Die Folge davon war, daß sich an jener Seite von Ritzebüttel an, auf der ganzen Strecke bis zur südlichen Wendung viel neues Land gebildet hat … Am mehrsten befindet sich desselben ostseits der Oste, wo es … so hoch [ist], daß einiges davon beackert wird, sogar Winterfrüchte trägt, das einzige Beispiel der Art … .“ [28] Die Eindeichung dieser Flächen geschah stufenweise zwischen 1840 und 1865. Die betroffenen Landeigentümer, die in den Nordkehdinger Kirchspielen Balje, Krummendeich und Freiburg ansässig waren, nahmen die Außendeichsflächen in eigener Initiative in Besitz − staatliche Instanzen wurden zunächst nur für technische Gutachten herangezogen. Im Übrigen verschoben die Kehdinger Landeigentümer ihre Grenze zum Wasser durch ein technisch ausgeklügeltes und finanziell aufwändiges Deich- und Sielsystem ganz selbstständig und auf eigene Kosten um Kilometer und eigneten sich dadurch neues, äußerst fruchtbares Land an. [29]
Quellen
[26] Reinhold Schulz, Das Deichrecht im Lande Kehdingen. Stade 1954, S. 101.
[27] Dies wird etwa deutlich auf Karten aus der napoleonischen Zeit (1811): NLA/StA Stade (wie Anm. 1), KA neu 1812a und b.
[28] Fridrich Arends, Physische Geschichte der Nordsee-Küste und deren Veränderungen durch Sturmfluthen seit der cymbrischen Fluth bis jetzt, Emden 1833 (Nachdruck Leer 1974), S. 383.
[29] NLA/StA Stade (wie Anm. 1), Rep. 74 Freiburg, Nr. 923; ebd., Rep. 80 Wasserbau, Tit. 65, Nr. 89; ebd., Rep. 80 Wasserbau, Tit. 65, Nr. 93; ebd.; Rep. 80 Wasserbau, Tit. 65, Nr. 102.