3. Eine neue Sepulkralästhetik: Modellierte Miniaturlandschaften

Jedoch war die Rasenbestattung nur ein erster Schritt zur Überwindung der Einzel- und Familiengrabstätte und zur räumlichen Neustrukturierung des Friedhofs. Die weitere Entwicklung hat die eher gleichförmig wirkenden namenlosen Rasenflächen gestalterisch insofern überwunden, als sie ein vielfältiges Mosaik naturnah modellierter Miniaturlandschaften hervorbringt. Zu den Pionieranlagen gehört der 2001 eingerichtete „Garten der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. [12] Mit ihm wird zugleich der gesellschaftspolitische Aspekt von Bestattungskultur deutlich: Statt der klassischen, familien-, ehe- oder individumsbezogenen Grabstätte entwickeln sich Anlagen, die von neuen sozialen Gruppierungen mit einer je eigenen gesellschaftlichen Identität geprägt sind – wie hier der Frauenbewegung. Als „Friedhof im Friedhof“ vereint der inzwischen flächenmäßig deutlich erweiterte „Garten der Frauen“ die Grabstätten für Mitglieder des gleichnamigen Vereins mit museal aufgestellten Grabdenkmäler bedeutender Hamburgerinnen. Damit wird er auch zum kulturhistorischen „Freilichtmuseum“. Zur Anlage gehören Erläuterungstafeln, Ruhebänke und vor allem vielfältige gartenarchitektonisch-gestalterische Elemente, die den Begräbnisplatz als naturnah modellierte Miniaturlandschaft erscheinen lassen.

Ein weiteres Beispiel: Auf dem Hauptfriedhof Karlsruhe wurden 2003 und 2007 unter dem Titel „Mein letzter Garten“ neuartige Bestattungsflächen für Aschenbeisetzungen (teils auch für Sargbeisetzungen) in einer homogen gestalteten Miniaturlandschaft geschaffen. Räumlicher Hauptbezugspunkt ist ein von Granitblöcken eingefasster Wasserfall, dem sich ein trocken gefallenes Bachbett als Symbol für das beendete Leben anschließt. Des Weiteren prägen Felssteine, geschwungene Wege, alter Baumbestand und Rasenflächen die Beisetzungslandschaft. Dabei wurde die „lineare Anordnung von Einzelgräbern ... aufgegeben zugunsten einer weniger strikten Gruppenbildung“. Die Urnengräber sind als Gemeinschaftsgrabanlagen konzipiert. Den Verstorbenen wird auf gemeinschaftlichen Erinnerungsmalen aus Stein und Holz – darunter ein künstlerisch gestalteter Eichenstamm – gedacht. [13]

Hingegen zeigt sich der 2006 eingerichtete „Ohlsdorfer Ruhewald“ auf dem Friedhof Hamburg-Ohlsdorf als fast unberührte Waldlandschaft. In dem zunächst rund zwei Hektar umfassenden Mischwaldbestand werden um Bäume herum Urnengräber angelegt. Die Namen der Verstorbenen können auf einer einheitlich gravierten Schildertafel ebenso vermerkt werden wie die Bezeichnung für die individuell ausgewählte Baumart. Auf größere Pflegearbeiten wird in diesem Areal – abgesehen vom saisonalen Mähen des Grases – ausdrücklich verzichtet, um den urtümlichen Charakter der Waldlandschaft zu erhalten. Blumenschmuck und Gestecke können entlang des Erschließungsweges abgelegt werden. [14]

Auf der Bundesgartenschau 2009 in Schwerin wurden erstmals die so genannten „Memoriam-Gärten“ vorgestellt – themenbezogene Miniaturfriedhöfe innerhalb regulärer Friedhöfe, die vom Bund deutscher Friedhofsgärtner betreut werden. [15]Inzwischen gibt es mehrere solcher Themenanlagen, unter anderem in Aachen, Berlin-Steglitz und -Zehlendorf, Duisburg-Waldfriedhof, Bonn und Saarbrücken-Dudweiler. Ähnlich ausgerichtet sind die von Friedhofsgärtner-Genossenschaften in Kooperation mit den Friedhofsverwaltungen angelegten „Bestattungsgärten“ in Köln und Bergisch-Gladbach. [16] Auch hier handelt es sich um themenbezogene Beisetzungsflächen, die sich als Landschaftsgärten en miniature zeigen, in die die Gräber ohne feste Grenzen hineinkomponiert sind. So ist der „Garten der Lichter“ im Stil eines japanischen Gartens konzipiert und will der symbolischen Bedeutung brennender Lichter für Trauer und Erinnerung – über Allerheiligen hinaus – gerecht werden. Über einen weiteren Themengarten, den „Auengarten“, heißt es: “Der Auengarten ist ein Bereich, der sich wohl am stärksten von dem gewohnten Friedhofsbild unterscheidet. Abseits von traditionellen Grabstätten mit klar begrenzten Einfassungen, betten sich die Gräber im Auengarten scheinbar verstreut in die gewachsene Landschaft ein. [17]

Stärker ökologisch orientiert ist die 2010 im schleswig-holsteinischen Ahrensburg eingeweihte „Wildblumenwiese“. Es handelt sich um ein zwei Hektar großes, von der evangelischen Kirchengemeinde verwaltetes Areal, das in seinen Randbereichen als Aschenbeisetzungsanlage dient.

Radikal aufgelöst wird die Tradition des Friedhofs als Bestattungsfläche im „Park der Ruhe und der Kraft“ auf dem Zentralfriedhof Wien: „Man betritt und verläßt den Park ... durch einen Torbogen. Das Tor ist Symbol dafür, dass man etwas hinter sich läßt und etwas anderes vor sich hat. Der Kraftort ... ist in fünf verschiedene Landschaftsbereiche aufgeteilt ..., die auf die Kräfte der Erde und des Kosmos abgestimmt sind. ... ... Der Trauernde soll hier meditativ sein Leid verarbeiten können. Es soll eine innere Bereitschaft aufgebaut werden, das Vergangene loszulassen und trotz eines erlittenen schweren Verlustes ein neues und erfülltes Leben zu beginnen.“ [18]

In derart gestalteten Wald-, Wiesen- und Gartenflächen lebt das klassische Landschaftsverständnis fort, jedoch in modifizierter und vor allem miniaturisierter Form. Die sepulkralen Miniaturlandschaften auf den Friedhöfen erinnern in ihrem Erscheinungsbild zumindest strukturell an die neuen, „künstlichen“ Freizeiterlebniswelten der Postmoderne: den „Center Parcs“ oder dem „Tropical Island“. Beide verweisen auf das gesellschaftlich-kulturelle Bedürfnis nach einer homogen gestalteten Landschaft. Aber im Unterschied zu den meist weitläufigen Parks und Gärten der bürgerlichen Epoche möchte man sie gleichsam im Zeitraffer erleben – was die miniaturisierte Form erlaubt. Wie einst die Anlage von Englischen Gärten inmitten der Städte, so zeigen aber auch sie, dass das klassische Landschaftsideal gerade innerhalb des urbanen Raumes seine Wirkung nach wie vor zu entfalten vermag.

Als ästhetisierte Natur war Landschaft, kulturhistorisch betrachtet, im bürgerlichen Zeitalter zum Ziel der inneren Einkehr und Kontemplation, zum Fluchtpunkt von Visionen und Utopien, zum Ort von Trost und Hoffnung geworden. Unter diesen Umständen war die „schöne“ Landschaft geeignet, jenes metaphysische Vakuum auszufüllen, das der Verlust eines universalen christlichen Weltbildes hinterlassen hatte. Die Landschaftsästhetik wurde nicht zuletzt zur Kompensation für die verlorengegangene christliche Auferstehungshoffnung und Jenseitsgewissheit. Anders gesagt: „Landschaft“ wurde in der Vorstellungswelt des bürgerlichen Zeitalters zum irdischen Ersatz für das verlorengegangene himmlische Paradies. Konkrete Vorlagen hatte dabei die Landschaftsmalerei geliefert. Mit ihr wurde „Landschaft“ zum profanen „Heiligtum“, zum „gedoubelten Paradies“. [19] Beispielsweise war der Topos der Insel ... als Toteninsel eingebettet in arkadische ... im bürgerlichen Zeitalter bekannt und beliebt als Ort von Trauer und Gedächtnis. Jean-Jacques Rousseaus Inselgrab im Park zu Ermenonville (1776/78) wurde zu einer vielbesuchten Pilgerstätte des gebildeten Bürgertums und fand etliche Nachahmer. Fürst von Pückler-Muskau ließ sich knapp 100 Jahre später einen Grabhügel in Pyramidenform auf dem See seines berühmten Branitzer Parks bei Cottbus erschaffen. Die neuen Miniaturlandschaften auf den Friedhöfen des frühen 21. Jahrhunderts erinnern kulturhistorisch an diese Sehnsucht nach der Nähe zur – möglichst „unverfälschten“ – Natur.



Quellen

[12] www.garten-der-frauen.de/main.html (Seitenaufruf 25. März 2012).

[13] Stadt Karlsruhe/Friedhofs- und Bestattungsamt (Hg.), Friedhofs- und Bestattungskultur in Karlsruhe, Karlsruhe 2007, S. 38 – 39; L. Rumold, „Mein letzter Garten“, in: Friedhof und Denkmal 48, 2003, Heft 3, S. 31 – 34; Zitat S. 31.

[14] H. Schoenfeld, Ruhe finden unter Bäumen – der Ohlsdorfer Ruhewald, in: Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur Nr. 111, IV/2010.

[15] www.memoriam-garten.de (Seitenaufruf 6. April 2012).
[16] www.bestattungsgaerten.de (Seitenaufruf 7. April 2012).
[17] Ebd.
[18] www.friedhoefewien.at/eportal/ep/programView.do/pageTypeId/13572/programId/16064/channelId/-26709 (Seitenaufruf 31. März 2012).

[19] Das gedoubelte Paradies. Natur in Philosophie und Praxis. Mit Beiträgen von L. Bäschlin u.a., Bergisch Gladbach 1998.