5. Ein Patchwork von Mikrolandschaften

Blicken wir nun abschließend auf einige aktuelle Ausprägungen im Hamburger Umland. Als Beispiel für die Veränderungen soll im Folgenden die zwischen Hamburg und Stade liegende Stadt Buxtehude dargestellt werden. Buxtehude hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine rasante Entwicklung genommen und seine Bevölkerungszahl auf heute knapp 40 000 vervielfacht. Die historische Altstadt, die um den alten Hafen gruppiert ist, erscheint im räumlichen Maßstab heute als fast miniaturhaft klein. Die wirtschaftlich bedeutenden Zonen der Stadt sind an die frühere Peripherie verlagert worden. Verkehrsgünstig gelegen, entfalten sie dort ihre Sogwirkung, die Stadt fasert ins Umland aus. Die Innenstadt verlior ihre stadtspezifische Eigenart. Stattdessen sind am Rande Buxtehudes konfektionierte Gewerbegebiete zu eigentlichen (Einkaufs-) Zentren geworden. Das sind verallgemeinerbare Entwicklungen: Die wirtschaftlichen Zentren werden an den Stadtrand (Brune/Pump-Uhlmann 2009). Dies sind zugleich Hinweise darauf, dass die wachsende Mobilität zu einem zunehmend großräumigeren Handeln der Akteure führt, zumal dann wenn das öffentliche Verkehrsnetz den Aktionsradius vergrößert. Die Innenstädte sind nur noch ein Handlungsfeld unter vielen.

Blicken wir ins nördliche Hamburger Umland. Neben Mittelstädten sollen nun auch kleinere Städte, Großgemeinden und Dörfer behandelt werden. Vergleichbares gilt für Bad Oldesloe im nördlichen Umland. Hier ist der historische Stadtkern prinzipiell bis heute erhalten geblieben, hat jedoch bezeichnenderweise seine frühere Bedeutung verloren. Am Reißbrett entworfene Strukturen ergänzten und erweiterten die traditionelle Topographie der Stadt. Die Wohn-, Verwaltungs- und Geschäftsbauten der 1950er bis 1970er Jahren zeigten eine neuartige, „moderne“ Architektur, die die Stadt nun zunehmend prägte. Um die historische Altstadt, die durch zahlreiche kleine Häuser und eine teilweise verwinkelte Straßenführung charakterisiert war, gruppieren sich vielgeschossige Bauten. Zum architektonischen Symbol des modernen Stadtbildes wurde das 1961 errichtete erste Oldesloer Hochhaus an der Kurparkallee. Weitere mehrgeschossige Wohnblocks entstanden – vor allem in den 1960er Jahren. In der Innenstadt zeigte sich dabei ein starker Verlust historischer Bausubstanz. Auch die großzügige Ausweisung der Oldesloer Gewerbegebiete war Ausdruck der neuen funktionalen Aufteilung der Stadt. Die Betriebe sollten nicht mehr, wie bisher, auf beliebigen freien Flächen innerhalb der Stadt angesiedelt, sondern auf wenigen Flächen konzentriert werden (Zander 2008).

Ein weiteres Fallbeispiel betrifft eine jüngere Stadt, und zwar das an der südöstlichen Hamburger Stadtgrenze gelegene Glinde. Bis in die 1930er Jahre hinein ein typisches Gutsdorf, wurde in der Zeit des Nationalsozialismus ein bedeutender Militärstandort. In den 1960er Jahren wurde die Ortsmitte, die zuvor von einem dann weitgehend abgerissenen Gutsbetrieb dominiert worden war, neu geplant. Dabei setzte man auf extreme Verdichtung durch Hochhausbau und City-Center-Bildung. Um 1980 jedoch endete diese am Leitbild der Großstadt orientierten Ära der Modernisierung. Besonders gut wird der Paradigmenwechsel durch den Erhalt der so genannten Deputatshäuser als historisch-ländlicher Architektur in der alten Dorfstraße veranschaulicht (1983). Dies gilt auch für den Umgang mit dem unbebauten Raum, etwa die Wiederherstellung von Glinder Au und Mühlenteich als Natur- und Naherholungsräume sowie der systematische Aufbau von Grün- und Waldflächen (Fischer 2000, S. 96 – 99).

Die Konservierung historischer Strukturen als Mikrolandschaften zeigt sich ebenso bei der Neugestaltung des Ortszentrums der Stormarner Großgemeinde Ammersbek. Im Gegensatz zu den beschriebenen Entwicklungen in den 1960er-Jahren, als man bei der Gestaltung der Ortskerne zur radikalen, meist vielgeschossigen Neubebauung im Sinne einer „City-Bildung“ neigte, wurden hier historische Strukturen im Mittelpunkt des Ortes erhalten. Die Großgemeinde Ammersbek war überhaupt erst mit Wirkung vom 1. Januar 1978 aus den beiden zuvor selbstständigen Gemeinden Hoisbüttel und Bünningstedt bei einer nunmehrigen Einwohnerzahl von rund 8 000 gebildet worden. Zur Gestaltung des neuen Ortszentrums diente eine nahe der B 434 gelegene hofähnliche Fläche um den ehemaligen Pferdestall eines früheren Gutshofes (Fischer 2008, S. 112 – 113).

Ein letztes konkretes Beispiel betrifft die Gemeinde Hoisdorf bei Ahrensburg. Sie entwickelte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts von einem Bauerndorf zu einer großstadtnahen Wohngemeinde. Dies veränderten die dörfliche Landschaft, denn der Ort verteilte sich auf mehrere Siedlungen. Der alte Dorfanger, also der historische Ortskern mit Dorfteich, steht heute unter Denkmalschutz. Zusammen mit den umliegenden Gehöften symbolisiert dieser Anger ebenso das ländlich-bäuerliche Milieu wie das nahgelegene Stormarnsche Dorfmuseum, in dem Relikte dieser vergangenen Lebenwelten dokumentiert werden. Dorfanger und Dorfmuseum sind für die gegenwärtige Sozialstruktur der Gemeinde längst nicht mehr repräsentativ und bilden nicht mehr das Zentrum. Dennoch gehören sie als eigenständige Mikrolandschaften zum heutigen Erscheinungsbild des Ortes. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß inmitten des Ortes eine als Naturschutzgebiet ausgewiesene Landschaft mit mehreren Gewässerflächen liegt: die so genannten„Hoisdorfer Teiche“ (Fischer 2000, S. 71 – 73).

Dies zeigt, dass im entstehenden Patchwork stadtregionaler Mikrolandschaften mittlerweile klassische Landschaftskonstrukte nicht verschwinden. Auf sie wird beispielsweise dann zurückgegriffen, wenn Landschafts- und Naturschutzgebiete ausgewiesen oder Fluss- und Teichlandschaften renaturiert werden. So entstanden Naherholungsgebiete, die mit geschwungenen Wegen, naturnah gestalteter Kleinarchitektur und künstlichen Wasserflächen imaginierten Naturlandschaften nachempfunden waren. Ein wichtiger Akteur war diesbezüglich der 1972 gegründete Verein „Naherholung im Umland Hamburg e.V.“, dessen Aufgabe die Pflege und Unterhaltung von Naherholungseinrichtungen war. Da die Ausstattung der Naherholungszonen immer demselben Muster folgte, waren die verschiedenen Wald-, Seen-, Park- oder Moorlandschaften des Hamburger Umlandes für jeden Besucher bald gleichmäßig vertraut: Natur wurde konfektioniert. Ihre konsequente Zuspitzung fand die Modellierung der Natur in der Ausweisung von Naturschutzgebieten, deren Zahl im Hamburger Umland besonders groß und deren Fläche häufig sehr klein ist. Die Naturschutzgebiete konservieren künstlich einen als „natürliches Ideal“ betrachteten Zustand, der auf traditionellen Landschaftsvorstellungen basiert.

In ihrem inselhaften Charakter zeigen sich diese naturnahen Mikrolandschaften als lebensweltlich-kompensatorische Räume zwischen Verkehrsachsen und verstädterter Bebauung. Gerade weil Naturflächen aus dem allgemeinen Strukturwandel ausgegliedert und „stillgestellt“ wurden, wurden sie zum funktionalen Bestandteil dieses Wandels und der mikrolandschaftlichen Patchwork-Topografie. Sie bilden ästhetisch-kompensatorische Äquivalente zu den Gewerbe- und Neubaugebieten.

Weitere kompensatorische Mikrolandschaften kommen im Hamburger Umland hinzu. Sie entstammen als ländlich-historisierte Ensembles dem Bereich der Dorfverschönerung und Denkmalpflege: erhaltene bzw. wiederhergestellte alte Dorfanger, reetgedeckte Häuser, Mühlenteiche, historische Gotteshäuser mit Kirchhöfen. In der Historisierung des funktional ja längst überkommenen ländlichen Lebens wird hier zugleich ein immaterielles Flechtwerk kultureller Symbole produziert, das ein Beispiel für die Komplexität des landschaftlichen Patchworks in stadtregionalen Räumen bietet (und dabei auf klassische Vorstellungen des Landschafts- und Heimatschutzes der Zeit um 1900 zurückgreift).

Resümierend lässt sich festhalten: Die Patchwork-Landschaften im verstädterten Hamburger Umland sind ein Produkt wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse der letzten Jahrzehnte, insbesondere des planerisch gesteuerten Strukturwandels und der wachsenden Partikularisierung der Lebenswelten (Arbeit, Wohnen, Einkaufen, Kultur, Freizeit, Erholung). Dabei schöpft das mikrolandschaftliche Patchwork noch aus dem Reservoir klassischer Landschaftswahrnehmung, indem es inselhaft naturlandschaftliche oder historisierte Ensembles produziert. Gesellschaftlich hat die funktionale Neugliederung des postmodernen Raumes eine Plattform für mobile, segregierte Lebenswelten geschaffen, die immer wieder neu miteinander kombiniert werden können.