- Abstract
- 1. Einführung
- 2. Zur Vorgeschichte
- 3. Strukturwandel und regionale Modernisierung
- 4. Räumlicher Wandel und Landschaftstheorie
- 5. Ein Patchwork von Mikrolandschaften
- Literaturverzeichnis
3. Strukturwandel und regionale Modernisierung
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die Voraussetzungen erneut. Im nördlichen Hamburger Umland, vor allem in den Kreisen Pinneberg und Stormarn, setzte in den 1950er Jahren ein struktureller Wandel ein, der Gesellschaft, Wirtschaft und Landschaft grundlegend veränderte (im südlichen Umland erfolgte dieser Strukturwandel erst mit zeitlicher Verzögerung). Aus ländlich-agrarisch-kleingewerblichen Zonen wurden gewerblich-industrielle Wachstumsgebiete. Die Ursachen waren vielfältig. Zunächst lagen sie im sozialen und wirtschaftlichen Druck, der sich aus den besonderen Umständen der Kriegs- und Nachkriegszeit ergab, insbesondere einem massiven Zustrom von Hamburger Bombenflüchtlingen und Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten. Dies gebot dringend die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Katalysatorisch wirkte sich hier die in den 1950er Jahren einsetzende, von Hamburg ins Umland ausstrahlende Industriesuburbanisierung aus, den die Umlandkreise, vor allem Pinneberg und Stormarn, durch die Gründung von Wirtschaftsförderungsgesellschaften und die systematische Ausweisung neuer Gewerbegebiete stützten. Diese Wirtschaftsförderungsgesellschaften, im Kreis Pinneberg 1952 und im Kreis Stormarn 1957 gegründet, wurden in der Folge zu wichtigen Akteuren des Strukturwandels. In Stormarn stieg in Folge rasch wachsender Ansiedlungen der Industrieumsatz zwischen 1957 und 1975 um 284%, die Zahl der Industriebeschäftigten um 174%. Dieser wirtschaftliche Strukturwandel bildete den Motor jener regionalen Modernisierung im Hamburger Umland, die in den späten 1950er Jahren einsetzte, in den 1970er Jahren zu einem vorläufigen Abschluss kam und der von Regionalsoziologen in seinen allgemeinen Zügen als „fordistische Modernisierung“ charakterisiert wird. Neben der gewerblich-industriellen und bevölkerungsmäßigen Expansion im Hamburger Umland zog er die Ausrichtung von Lebensweise und Lebensstandards an urbanen Leitbildern nach sich. Architektonisch-städtebaulich wurden aus einst ländlich-agrarisch-kleingewerblichen Räumen neuartige Zonen, die zwischen Stadt und Land oszillierten (Fischer 2008, S. 25 – 34).
Beispielhaft lässt sich diese Entwicklung am Raum Reinbek/Glinde im Kreis Stormarn veranschaulichen. Zur Initialzündung wurde hier Katalysatorisch wirkte ein 1960 angelegtes, gemeindeübergreifendes Gewerbegebiet, das in der Folge stetig erweitert wurde. Dieses Gewerbegebiet, das auf kommunalen Flächen von Reinbek, Glinde und Schönningstedt lag, zog in den 1960er Jahren viele Betriebe an und bot neue Arbeitsplätze, was wiederum Wohnsiedlungsbau erforderte. Reinbeks Bevölkerungszahl stieg zwischen 1961 und 1970 von knapp 11.000 auf über 15.000. Architektonisches Zeugnis der raschen Verstädterung Reinbeks war ein 20-geschossiges Hochhaus, das 1965 als höchstes Wohnhaus in Schleswig-Holstein galt. Dem systematisch betriebenen Ausbau Reinbeks als Wohn- und Gewerbestadt folgten verbesserte Verkehrsanbindungen nach Hamburg: Elektrifizierung der Bahnstrecke und Einbindung in den Hamburger Verkehrsverbund sowie eine Anschlussstelle an die Autobahn A 24 Hamburg-Berlin.
Noch rasanter verlief die Verstädterung in Glinde, das sich vom kleinen ländlichen Gutsdorf zu einer Industrie- und Arbeiterwohngemeinde wandelte. Die Einrichtung des genannten Gewerbegebiets ergab auch hier einen erheblichen Bevölkerungsschub und umfangreichen Siedlungsbau. Bis 1968 vervierfachte sich die Einwohnerzahl gegenüber dem letzten Vorkriegsstand (1939) und erreichte fast 9.000. In den 1960er Jahren wurde dank stark gestiegener kommunaler Gewerbesteuer mit der Errichtung eines neuen, am Reißbrett geplanten „modernen“ Ortszentrums mit mehrstöckigen Büro- und Geschäftshäusern begonnen. Die alte Durchgangsstraße musste zu diesem Zweck innerhalb des Ortszentrums verlegt werden. Zuvor hatte ein großer Gutsbetrieb Glindes Ortsmitte geprägt, der in diesem Kontext vollständig abgerissen wurde.
Eine Schlüsselrolle bei dieser Modernisierung spielte die rasch vorangetriebene verkehrstechnische Erschließung des Umlandes. Erst jüngst ist die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur für die Konstruktion territorialpolitischer, planerischer, gesellschaftlicher und lebensweltlicher Räume herausgearbeitet worden (Neubert/Schabacher 2013). Die allumfassende verkehrstechnische Erschließung des Hamburger Umlandes basierte zunächst vor allem auf einer seit den 1960er Jahren zunehmend vom Automobil und preiswertem Treibstoff geprägten Gesellschaft. Die Automobilisierung des Alltags ermöglichte eine individuelle Mobilität, so dass auch jene Räume des Hamburger Umlandes, die nicht von Bahnstationen bedient wurden, enger mit der Metropole Hamburg verknüpft werden konnten. Kurzum: Räumliche Entfernungen spielten für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eine immer geringere Rolle. Begünstigt durch die massenhafte Verbreitung des Automobils, kam es seit den 1960er Jahren zu einer zweiten Zuzugswelle ins Umland: die so genannte Bevölkerungssuburbanisierung. Die Dörfer übernahmen zunehmend reine Wohn- und Freizeitfunktionen oder wurden – vor allem in verkehrsgünstigen Lagen an den Autobahnen – gewerblich-industriell verdichtet (wie Buchholz/Nordheide im südlichen oder Bargteheide im nördlichen Umland).
Die ins Umland abgewanderte Bevölkerung setzte sich aus „Stadtbenutzern“ zusammen, für die kontinuierlich bessere verkehrstechnische Anbindungen an die Großstadt geschaffen wurden. Bereits die in den 1950er Jahren begonnene B 404 (heute teilweise A 21) durchschnitt die Kreise Segeberg und Stormarn – später kamen die Elbtunnel-Autobahn A 7, die A 23 Richtung Pinneberg/Elmshorn sowie die quer durch den Kreis Herzogtum Lauenburg verlaufende Autobahn Hamburg-Berlin (A 24) hinzu. Darüber hinaus erhielten Städte wie Bad Oldesloe (Nordtangente) und Ahrensburg (Ostring) inner- und außerörtliche, großzügig dimensionierte Umgehungsstraßen, die auf gewachsene räumliche Strukturen nur begrenzt Rücksicht nahmen (Fischer 2008).
Der Öffentliche Personennahverkehr unterstützte diese Entwicklung. Der bereits Mitte der 1960er Jahre gegründete Hamburger Verkehrsverbund (HVV) griff mit seinem Liniennetz von U- und S-Bahnen sowie Bussen teilweise weit ins Umland aus, vor allem ins nördliche. Mitte der 1990er Jahre kam es unter dem Stichwort „Regionalisierung“ zu einer politisch gewollten Reorganisation des öffentlichen Personennahverkehrs. Diese verkehrspolitische Wende führte zu einer grundlegenden Verbesserung des Angebots. Im Hintergrund stand die Überlastung des Straßennetzes. Diese Entwicklung war nicht zuletzt eine Folge der verstärkten Pendlerbeziehungen zwischen Metropolen und Umland. Die im Umfeld der Großstädte zunehmenden Staus auf den Zufahrtsstrecken führten zu enormen Zeit- und Energieverlusten. Hinzu kamen stark steigende Treibstoffpreise sowie das politische Umdenken in Richtung Umweltschutz und Ressourcenschonung. Eines von vielen Beispielen im Hamburger Umland ist die Verlängerung der S-Bahnlinie 3 im Jahr 2007nach Stade.
Auch auf der Planungsebene wurden Hamburg und das Umland immer stärker miteinander verflochten. Industrie- und Bevölkerungssuburbanisierung sowie der Ausbau der Infrastruktur waren eingebettet in eine länderübergreifende Raumplanung. Besonders zwischen den vier schleswig-holsteinischen Umlandkreisen und Hamburg fand eine enge, allerdings gelegentlich auch konfliktgeladene Abstimmung in Sektoren wie Verkehr, Wohnungsbau, Bildungswesen und anderen statt. Raumordnerisch diente diese – bereits in den 1950er Jahren und damit für bundesdeutsche Verhältnisse relativ früh einsetzende – länderübergreifende Regionalplanung in erster Linie dem Ziel, die gewerblich-industrielle und bevölkerungsmäßige Verdichtung innerhalb des Umlandes auf bestimmte Räume, die bereits erwähnten so genannten Achsen, zu konzentrieren. Es ging um hier, um es verallgemeinert zu formulieren, um die raumplanerische „ ... Bereitstellung von Nutzflächen für ausgewogene Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“ (Werlen 1995, S. 517). Aus den regionalen Modernisierungsprozessen im großstädtischen Umland resultierte letztlich ein neuer Raumtypus, der durch eine starke soziale und funktionale Ausdifferenzierung der ehemals ländlichen Räume im großstädtischen Umland gekennzeichnet ist: Wohnen, Gewerbe, Dienstleistungen, Bildungs-, Freizeit- und andere Infrastruktureinrichtungen (Läpple/Soyka 2007, Boczek 2007).
Dies ist nicht zuletzt eine Folge von übergreifenden gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen, die im Allgemeinen unter dem Begriff der „Postmoderne“ zusammengefasst werden. „In den achtziger Jahren“, so urteilt der Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel, „zerfiel das Gesellschaftsmodell der Nachkriegszeit“ (2007, S. 572). Die in der Folge einsetzende gesellschaftliche und kulturelle Neuorientierung verkörperte das Ende des verbindlichen Rahmens der Nachkriegs-Gesellschaft. Im Hintergrund standen fundamentale Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen, vor allem der Überwindung der rohstoffabhängigen, fließbandmäßigen Industriearbeit des fordistischen Zeitalters. Auch im Freizeitbereich vollzog sich eine Differenzierung des Angebotes. Der traditionelle Feierabend wurde von individualisiert-mobilen Formen der Freizeitgestaltung und Erholung ersetzt (Döring-Manteuffel 2007, S. 560, 575; Aring 1999, S. 73,75).
Allerdings zeigten sich diese Entwicklungen im nördlichen Umland früher und stärker als im südlichen. Was waren die Gründe für dieses Nord-Süd-Gefälle? Für den Landkreis Harburg beispielsweise wirkte sich die im Vergleich zum nördlichen Umland schlechte verkehrstechnische Anbindung an die Großstadt negativ aus – die Elbe wirkte bis zur Eröffnung des neuen Elbtunnels 1975 als Barriere. Entscheidendes Kriterium bei der Wahl eines neuen Ansiedlungsortes war für die Betriebe nämlich die relative Nähe zum bisherigen Standort in Hamburg bzw. zu Hamburgs City. Ebenso spielte die Anbindung an U- und S-Bahn bzw. Vorortbahn eine entscheidende Rolle bei der Standortentscheidung. All dies begünstigte zunächst die nördlichen Umlandkreise.
Eine besondere Entwicklung hingegen nahm im südlichen Umland der Raum Stade. Hier entstand seit Ende der 1960er Jahre in Bützfleth an der Niederelbe mit öffentlicher Förderung ein neues industrielles Zentrum, dessen Flächen durch Eindeichungsmaßnahmen nach der für diese Region verheerenden Sturmflut 1962 überhaupt erst geschaffen wurden (seit 1972 gehört die zuvor selbständige Gemeinde Bützfleth durch eine Gebietsreform zur Stadt Stade). Die sich ansiedelnde Großindustrie mit zahlreichen neuen Arbeitsplätzen veränderte die Wirtschafts- und Sozialstruktur im Raum Stade. Katalysatorische Faktoren waren ein vorhandenes Arbeitskräftepotenzial, preiswerte Energie, günstige Rohstoffbedingungen, politische Unterstützung der Landesregierung und regionalpolitische Förderung sowie der Ausbau der Infrastruktur auf öffentlichen Kosten.
Das Hamburger Umland ist inzwischen Teil der Metropolregion Hamburg geworden. Bereits die Terminologie dokumentiert den Wandel: Wurden Metropole und Region bis ins späte 20. Jahrhundert hinein als Polaritäten gesehen, werden sie nun begrifflich zusammengeführt. Das Hamburger Umland wurde damit Element eines Konglomerats, das unterschiedliche Formen raumplanerischer Zusammenarbeit und neue Formen netzwerkartig gestalteter Infrastrukturen geschaffent hat. Die Metropolregion Hamburg zeigt sich Ausdruck jenes Paradigmenwechsels, der das vorangegangene Konzept der „alten“ Stadt mit ihren klaren Stadt-Umland-Abgrenzungen überwindet. (Döring 2003, Adam 2005, Ludwig 2008).