Region – regionale Identität - Regionalgeschichte

Erstpublikation unter: Repräsentationen des Regionalen.
In: Kulturen 4, 2010, Heft 1, S. 6-20


2.2. Partikularisierte Regionalität: Das großstädtische Umland [20]

Zu gänzlich anderen Ergebnissen gelangt man, wenn man sich das Hamburger Umland und seine Entwicklung im 20. Jahrhundert betrachtet. Das Hamburger Umland lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven als „Region“ definieren:

a.) ist es seit langem politisch und raumplanerisch als einheitliches Gebiet behandelt worden, weil es in besonderen, vielfältigen Wechselwirkungen mit der nahen Großstadt Hamburg steht;

b.) ist es im 20. Jahrhundert einem vergleichbaren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Problemdruck ausgesetzt gewesen – namentlich nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Zuwanderung von Flüchtlingen, Vertriebenen sowie ausgebombten Hamburgern in damals noch weitgehend ländlich geprägte Gebiete;

c.) mündete dieser Problemdruck in einen Strukturwandel, der das Gesicht des Hamburger Umlandes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend veränderte und der mit dem häufig verwendeten Begriff der „Suburbanisierung“ nur unzureichend – weil schon im Präfix die klassiche Stadt-Land-Hierarchie reproduzierend – etikettiert werden kann. [21]

Im Hamburger Umland zeigte sich der Modernisierungsprozess seit den 1950er Jahren zum einen als gewerblich-industrielle Verdichtung, hervorgerufen durch zahlreiche Standortverlagerungen Hamburger Betriebe ins Umland. [22] Sie verdrängten die dort zuvor dominanten landwirtschaftlich-handwerklichen Produktionsformen. Diese gewerblich-industrielle Verdichtung erfasste nach und nach große Teile des Umlandes – schwerpunktmäßig zuerst das nördliche Umland, später auch Zonen südlich der Elbe (wie exemplarisch die Industrialisierung der Niederelbe im Raum Stade seit den späten 1960er Jahren zeigt). Im südlichen Umland waren es darüber hinaus großstadtnahe Kommunen wie Meckelfeld, Maschen und Neu-Wulmstorf, die frühzeitig expandierten. [23]

Zu dieser Expansion gehörte ein rasanter Bevölkerungsanstieg. Dazu trug neben den bereits erwähnten Flüchtlingen und Vertriebenen seit den 1960er Jahren auch die quantitativ bedeutende Abwanderung Hamburger Stadtbewohner ins Umland bei. In einigen der Umlandgemeinden verlief die Entwicklung besonders dramatisch. So verachtfachte das an der Grenze zwischen den Kreisen Harburg und Stade gelegene Neu-Wulmstorf seine Bevölkerungszahl von 1939 (565 Einwohner) bis 1961 (4255 Einwohner). Bemerkenswert ist auch die Entwicklung von Buchholz (Landkreis Harburg), das seine Bevölkerungszahl – bei ungleich höherem Ausgangsniveau – zwischen 1939 und 1968 mehr als vervierfachte und bereits 1958 das Stadtrecht erhielt. [24]

Der Modernisierungsprozess im Umland veränderte in weiten Teilen das Erscheinungsbild der Region. Im Zuge der Ausweisung großflächiger Wohn- und Gewerbegebiete kam es zur Verstädterung einstmals ländlicher Orte. Diese äußerte sich in mehrgeschossigem Wohnungsbau, Verdichtung des Ortskernes zur „City“ sowie im Ausbau der sozialen und technischen Infrastruktur, vor allem der Verkehrsnetze mit Schnellstraßen und Autobahnen. Für die Region des Hamburger Umlandes insgesamt zog dies eine räumliche Zonierung und Uniformierung nach sich – es entstanden funktional aufgeteilte Räume, deren Erscheinungsbilder sich glichen. Die Komplexität des Raumes wurde mithin reduziert – und die in den 1960er Jahren einsetzende landwirtschaftliche Flurbereinigung tat bei den verbliebenen Agrarflächen das Ihre, um die Uniformierung des Umlandes voranzutreiben.

Was bedeutete nun dieser Strukturwandel für die Ausbildung von regionaler Identität? Dass die Identifikation mit dem Kreis bei seinen Bewohnern zumindest Anfang der 1990er Jahre nicht besonders stark ausgeprägt war, wurde bereits in der Einleitung thematisiert. Auch Außenstehenden fällt es offensichtlich schwer, ein spezifisches Profil zu erkennen: Im September 2007 präsentierte das „Hamburger Abendblatt“ den Kreis Stormarn und beschrieb mehrere seiner Kommunen. Über die Kreisstadt Bad Oldesloe hieß es beispielsweise: „Die Stadt macht es einem nicht leicht. Sie gibt sich sperrig und reserviert. …. Der Ort wollte modern sein, bejubelte das erste Hochhaus und opferte alte Bebauungstrukturen den Interessen der Wirtschaft, die nach Verkehrsströmen verlangte. Erst allmählich besann sich der Ort auf seine Geschichte im Zusammenhang mit den Flüssen Trave und Beste und entdeckte darin einen Standortvorteil. … Die Stadt liegt zwischen den Metropolen und läuft dabei Gefahr, selbst abgehängt zu werden. … Was hat Bad Oldesloe, was andere nicht haben?“ [25] Letztere Frage blieb schließlich unbeantwortet. Das Amt Trittau wurde als ländliche Idylle beschrieben, während der Ort Trittau selbst „fast städtische Züge“ zeigte. [26] Einiges in Stormarn wurde als nurmehr „gesichtslos“ wahrgenommen, so etwa die Hamburg direkt benachbarten Räume in Südstormarn: „Fährt man die Möllner Landstraße Richtung Glinde und passt einen Moment nicht auf, dann ist es auch schon vorbei. Das war Oststeinbek.“ [27]

Für die Stadt-Land-Agglomerationen der Metropolregionen aber erweist sich „regionale Identität“ möglicherweise als Anachronismus – zu wenig entsprechen die hier entstandenen heterogenen Patchworks der Sehnsucht nach dem geschlossenen, in sich harmonischen Ganzen. Wenngleich es also keinem prinzipiellen Zweifel unterliegen kann, dass „Identität“ räumlich zu verankern ist, so bleibt dies an gewisse strukturelle Voraussetzungen gebunden – Voraussetzungen, die es in der Metropolregion Hamburg zu Beginn des 21. Jahrhunderts so nicht mehr gibt.

Aber jenseits solcher singulären Phänomene zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass der räumliche Wandel in Stormarn und der Metropolregion Hamburg zu Lasten alter, identitätsstiftender Lebenswelten gegangen ist. Dies wird auch aus städtebaulicher Perspektive erkannt: „Die diffusen Räume unserer Ballungsgebiete sind für die meisten Menschen zeichenlos. Dem ungestalteten Raum wurden keine expliziten Zeichen für seine Lesbarkeit gegeben, und die Nutzung dieser Räume ist auf den ersten Blick so bezugslos zu dem Ort, an dem sie stattfindet (Pendlertum, Schlafstädte, Baumärkte), dass auch von dieser Seite keine den Ort unverwechselbar kennzeichnenden Zeichen entstehen. Wenn überhaupt Zeichen gesehen werden, dann sind sie also austauschbar – das heißt, der Ort bleibt anonym“. [28]

In der Tat wurde das klassische bürgerliche Bild in sich geschlossener räumlicher Einheiten aufgelöst zugunsten eines räumlichen Patchworks, das ein pluralistisches Angebot von Nutzungs- und Wahrnehmungschancen offeriert. Damit ändert sich nicht nur die Wahrnehmung der Räume, sondern auch die Beziehung zu ihnen: „Das Lokale ist nunmehr in seiner Beziehung zu globalen, grenzüberschreitenden Handlungsräumen neu zu bestimmen. Mit der politischen und ökonomischen Veränderung geht die Entstehung neuer Raummuster einher, die nicht mehr territorialen Raum, aber auch nicht nur verflüssigten und homogenen Raum meinen, sondern je nach funktionalem Zusammenhang ausdifferenziert sind. … Lokale Bezüge lösen sich nicht völlig auf, sie werden nur mit bislang unbekannten Kontexten verwoben.“ [29] Die funktionale Neugliederung des Raumes, wie sie sich im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert entfaltet hat, schuf die Plattform für neuartige, partikularisierte Lebenswelten, die im Alltag der mobilen Gesellschaft immer wieder neu miteinander kombiniert werden. Die klasssischen Modelle von räumlich gebundener Identität greifen hier nicht mehr, da sie eine emotionale und kontinuierliche Beziehung zu Orten und Landschaften voraussetzen.

Der räumliche Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Ausdruck jener mobilen Gesellschaft, in der eine besondere emotionale Bindung an bestimmte Orte keinen Sinn mehr macht. Diese Funktionalität im Umgang mit Orten und Räumen konstituiert keine festen Lebenszusammenhänge mehr, sondern Durchgangsstationen. Das Flüchtige wird zum Selbstverständlichen.

Hier zeigt unser Interviewmaterial deutlich, dass die Erinnerung der räumlichen Umgebung vom Gefühl des Verlustes geprägt war – sie wurde zur so genannten „Verlusterzählung“. [30] Die erinnerten Orte veränderten und verflüchtigten sich im Lauf der Zeit. Orte und Räume, die man sich zuvor angeeignet hatte, mussten wieder aufgegeben werden. Dies aber ist für die Entwicklung regionaler Identität von entscheidender Bedeutung. Der räumliche Wandel unterminierte regionale Identität, indem er ihr gerade jene lokale Verankerung nahm, die Aleida Assmann einfordert. Besondere Orte, die im autobiografischen Gedächtnis eine bedeutsame Rolle gespielt und Identität im Raum verankert hatten, gingen durch Strukturwandel und Modernisierungsprozess verloren. Für das Hamburger Umland erweist sich damit eine regionale Identität als Anachronismus – zu wenig „besondere Orte“ boten die räumlichen Koordinaten. Der sinnhaften Verortung im Raum wurde der Boden unter den Füßen entzogen – im wahrsten Sinn des Wortes. Wenngleich es also keinem prinzipiellen Zweifel unterliegen kann, dass „Identität“ räumlich zu verankern ist, so bleibt dies an gewisse strukturelle Voraussetzungen gebunden – Voraussetzungen, die es im Hamburger Umland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gab.

Man mag mit Recht einwenden, dass „regionale Identität“ nicht nur räumlich, sondern auch auf kulturell-symbolischer Ebene zu verankern wäre. Und in der Tat gab es auch im Hamburger Umland solche Versuche, dem raschen Wandel auf symbolischer Ebene etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen. Dies geschah in der Regel im Rückgriff auf die Vergangenheit und ihre Relikte: Die entschwindenden ländlichen Lebenswelten tauchten unter anderen Vorzeichen wieder auf – beispielsweise in der Musealisierung alter Dorf- und Agrarlandschaften und der Bewahrung historischer Ensembles mit Teich und Kopfsteinpflaster, [31] in der Renaissance des Reetdaches, dann in den zahlreich entstehenden Heimat- und kulturgeschichtlichen Museen, die das Erbe ländlicher Lebenswelten überliefern (mit dem Freilichtmuseum am Kiekeberg im Landkreis Harburg als bekanntestem Beispiel).

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Quellen

[15]
Die Fallstudie basiert auf einem seit 2008 laufenden Forschungsprojekt, das Verf. für den Landschaftsverband Stade e.V. durchführt. Die Abschlusspublikation ist für 2011 vorgesehen.

[20]
Der folgende Abschnitt basiert auf Textpassagen aus Norbert Fischer: Vom Hamburger Umland zur Metropolregion – Stormarns Geschichte seit 1980. Hamburg 2008; ders.: Die modellierte Region – Stormarn und das Hamburger Umland vom Zweiten Weltkrieg bis 1980. Neumünster 2000; ders.: Regionale Identität im Hamburger Umland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Eine Problemskizze. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 93, S. 199-214

[21]
Zur Suburbanisierungsforschung als Überblick Klaus Brake /Jens Dangschat/Günter Herfert (Hrsg.), Suburbanisierung in Deutschland. Aktuelle Tendenzen, Opladen 2001. – Zur Geschichte der Stadt-Land-Beziehungen siehe Clemens Zimmermann (Hrsg.), Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 2001. – Zu den Regionen „zwischen Stadt und Land“ siehe u.a. Raimund Blödt u.a.: Beyond Metropolis. Eine Auseinandersetzung mit der verstädterten Landschaft, Zürich 2006, darin vor allem Christophe Girot: Urbane Landschaften der Zukunft (S. 52-55); Lars Bölling /Thomas Sieverts (Hrsg.): Mitten am Rand. Auf dem Weg von der Vorstadt über die Zwischenstadt zur regionalen Stadtlandschaft. Wuppertal 2004; Dietmar Scholich (Hrsg.): Integrative und sektorale Aspekte der Stadtregion als System, Frankfurt a. M. u.a. 2004; Thomas Sieverts: Zwischenstadt – zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig und Wiesbaden 1997.

[22]
Zu dieser Entwicklung allgemein Fischer: Modellierte Region (wie Anm. 20).

[23]
Dieter Brosius u.a., Heimatchronik des Kreises Harburg. Köln 1977, S. 164.

[24]
Zum Strukturwandel im Landkreis Harburg zusammenfassend Norbert Fischer, Der Landkreis Harburg 1945-1970. Probleme regionaler Modernisierung im Hamburger Umland. In: Jahrbuch für den Landkreis Harburg 2000, S. 25-40; zu den Daten: Regionalstatistische Daten für das Hamburger Umland 1961 bis 1968. Hrsg. vom Statistischen Landesamt der Freien und Hansestadt Hamburg (=Statistik des hamburgischen Staates, Heft 93), S. 26.

[25]
Hamburger Abendblatt Nr. 224 vom 25. September 2007, Beilage Serie.

[26]
Ebd.

[27]
Ebd.

[28]
Boris Sieverts: Stadt als Wildnis. In: Dieter D. Genske/Susanne Hauser (Hrsg.): Brache als Chance. Ein transdisziplinärer Dialog über verbrauchte Flächen, Berlin 2003, S. 207.

[29]
Franzen/Krebs: Einleitung, S. 17-18.

[30]
Albrecht Lehmann, Erinnerte Landschaft. Veränderungen des Horizonts und narrative Bewußtseinsanalyse. In: Fabula 40 (1999), S. 75-82, hier S. 79 f.

[31]
Beispielhaft die Neugestaltung des Ortszentrums von Ammersbek in den 1980er-Jahren mit einem historischen „Pferdestall“ als Mittelpunkt: Ortszentrum Ammersbek. Nutzungs- und Gestaltungsuntersuchung. Vervielfältigtes Manuskript. O. O. 1983 (Kreisarchiv Stormarn, Bestand S 50)

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