Region – regionale Identität - Regionalgeschichte

Erstpublikation unter: Repräsentationen des Regionalen.
In: Kulturen 4, 2010, Heft 1, S. 6-20


2.1. „Erfahrene Regionalität“: Fallstudie Flussregion Oste [15]

Die Oste hat die Geschichte der Region zwischen Elbe und Weser maßgeblich geprägt. Dies zeigt sich bereits im Landschaftswandel: Die von der Elbe und Nordsee kommenden Gezeiten ließen die Marsch am Unterlauf der Oste an beiden Ufern aufschlicken. Die Oste war bis zur Zeit der Eisenbahnen und des Lastkraftverkehrs ein zentraler Verkehrsweg. Heute wird der Fluss wegen der Gezeitenabhängigkeit bis Bremervörde von Deichen begleitet. So zeigt sich die Region geprägt von der dauerhaften Auseinandersetzung mit dem Wasser: Entwässerung, Bewässerung, Überschwemmungen.

Die Abhaltung des von der Elbe her kommenden Flutwassers durch Deiche einerseits, die notwendige Entwässerung des Binnenlandes durch Schleusenbau andererseits zählen seit Jahrhunderten zu den beherrschenden Problemen an der Oste. Dabei haben die regionalen Akteure eine beträchtliche Handlungskompetenz entwickelt, die auch Basis bot für Innovationen und Widerstand gegen die staatliche Zentralgewalt. Diese historisch gewachsene regionale Handlungskompetenz und die damit gewonnene regionale Identität beruht auf der Erfahrung des Flusses und seinen Fluten. Denn ein einheitliches verwaltungspolitisches Territorium bildete die Oste-Region nie, vielmehr war sie in mehrere Ämter und Gerichte bzw. Landkreise aufgesplittert.

Ein anschauliches Beispiel für die sich in einer hochgradig personalisierten Beziehung zum Wasser äußernden regionalen Mentalität bedeutet der „Fall Itzwörden“. Dabei ging es um die von der königlich-hannoverschen Regierung im Jahr 1825 vorgeschlagenen Eindeichung des auf Wurten rechtsseitig der Oste liegenden Itzwörden (Kirchspiel Geversdorf, Amt Neuhaus). Im Hintergrund der geplanten Maßnahme standen die Erfahrungen der berühmten Sturmflutkatastrophe vom 3./4. Februar 1825. Diese hatte an weiten Teilen der Nordseeküste und auch an Niederelbe und Oste schwere Schäden angerichtet hatte. In diesem Zusammenhang schlug der damalige hannoversche Oberdeichgräfe (und spätere Wasserbaudirektor) Friedrich August Rudolph Niemeyer auch die Eindeichung des in einer Flussschleife liegende Itzwörden vor. Niemeyer war seit 1814 als Oberdeichgräfe für Kehdingen und die Oste zuständig und sorgte nach der Februarkatastrophe 1825 mit großem Engagement für die Wiederherstellung der zerstörten Deiche sowie nicht zuletzt für prophylaktische Küstenschutzmaßnahmen. Sein Itzwörden-Projekt betraf – so hieß es wörtlich aus – „die gänzliche Eindeichung des ganzen Dorfes Itzwörden welches bisher blos auf Wurthen gebauet, allen hohen Sturmfluthen ohne die geringste Sicherheits-Vorkehrung ausgesetzt und daher höchst gefährlich situiret ist“. [16]

Allen Bemühungen zum Trotz gelang es der Obrigkeit aber nicht, sämtliche Betroffenen aus Itzwörden von dem Projekt zu überzeugen. Insbesondere die Kostenübernahme der Eindeichung sowie die künftige Unterhaltung des neuen Deiches blieben umstritten. Ohnehin schätzten die Itzwördener die Gefahrenlage ohnehin im Vergleich zur Regierung als weniger bedrohlich ein. Schließlich hatte die Lage auf der Wurt in der Vergangenheit in der Regel ausreichend Sicherheit geboten.

Dieses Fallbeispiel dokumentiert regional verankerte Formen des Umgangs mit dem Wasser: die Wurt begegnet den Fluten in „weicher“ Form allein durch ihre Höhe, der Deich hingegen zieht eine klare Grenze zwischen Land und Wasser. Die Entscheidung zum Deichbau an der Nordsee und den tideabhängigen Flüssen war nicht die einzige mögliche Reaktion auf die naturräumlichen Gegebenheiten, sondern bildete vielmehr eine von mehreren Optionen, um mit den Gezeiten zu leben. Die Wurt von Itzwörden repräsentiert eine regionale Erfahrung des Umgangs mit dem Wasser, die sich den Standards der staatlichen Obrigkeit entzog.

Ebenfalls ein anschauliches Beispiel für regional fundiertes Erfahrungswissen bilden die Mitte des 19. Jahrhunderts bei Kranenburg und Blumenthal eingebauten Oste-Einlässe. Sie ermöglichten es im Winterhalbjahr, bestimmte Flächen bei genügend hohe Oste-Wasserständen überfluten und mit dem mitgeführten Schlick düngen zu können (1922 wurde der letzte Einlass wieder zugedeicht). Diese Einlässe dienten der Bewässerung der außendeichs gelegenen Flussmarschen durch die nährstoffreichen, von der Elbe und Nordsee her kommenden Fluten. Zugleich diente das Projekt der Aufschlickung dieser Flussmarschen, damit sie wenigstens saisonal landwirtschaftlich genutzt werden konnten – anders gesagt: nicht mehr laufend überschwemmt wurden. Sie bildeten insofern etwas Besonderes – ja, man kann von einem Paradoxon sprechen – als mit ihnen die ursprüngliche Funktion der Deiche, das Wasser abzuhalten, ad absurdum geführt wurde.

Erste Initiativen entstammten dem späten 18. Jahrhundert aus dem so genannten Gericht Hechthausen. Die in Stade ansässige mittlere Regierungsebene der Herzogtümer Bremen und Verden, zu denen die Oste gehörte und die ihrerseits zum damaligen Kurfürstentum Hannover gehörten, bestätigte den positiven Effekt einer solchen Maßnahme wie folgt: „Daß nun das Fluth-Wasser wegen des mit sich führenden Schlicks dem Weide- und Wiesen-Lande sehr heilsam sey, ist durch die Erfahrung genügsam bekannt und es scheinet auch, daß von solcher Sperrung kein Schade zu besorgen seyn dürffte, wenn genau darauf geachtet wird, daß selbige jedesmahl nur solange dauere, bis die niedrigen Gegenden überschwemmt sind, und also das hohe – mit der Winter-Saat bestellete Land frey bleibet.“ [17] Gleichwohl erwuchs vor Ort zunächst noch Widerstand, der sich auf die eigentliche Funktion der Deiche berief: „Die Absicht der Schleusen gehet … doch wohl eigentlich dahin, die Aussenwasser abzuhalten und das Binnenwasser abzuführen. Warum baut man Winterdeiche und Schleusen, wenn man das Land den Winter über unter Wasser setzen will?“ [18] Diesem Argument schloss sich letztlich die Stader Regierung an und untersagte das Projekt am 4.Dezember 1787. [19]

Aber die Idee schlief nicht ein. Knapp 60 Jahre später wurden dann die Vorschläge realisiert: in Laumühlen 1845, in Kranenburg und Blumenthal 1853/55. Die Erfahrung hatte gelehrt, dass die konkrete Erfahrung über die abstrakte Rationalität der Regierungsebene siegen konnte. Die persönliche Beziehung der anliegenden, an einer Verbesserung des Bodens interessierten Landwirte zum Fluss, die direkte Aneigung der erfahrenen Umwelt bedeuteten mehr als die Theorie des Deichbaues. Die kleinteiligen, auf mehrere Verwaltungseinheiten aufgesplitterte Lebenswelten rechts und links der Oste trugen das Ihre dazu bei, vor Ort gewachsene Strukturen zumindest in Teilen bis heute wirksam zu erhalten.

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Quellen

[15]
Die Fallstudie basiert auf einem seit 2008 laufenden Forschungsprojekt, das Verf. für den Landschaftsverband Stade e.V. durchführt. Die Abschlusspublikation ist für 2011 vorgesehen.

[16]
Die Darstellung beruht auf der Akte Staatsarchiv Stade (StA), Bestand Rep. 74 Neuhaus, Nr. 702.

[17]
Regierung an den Gerichtsverwalter Nicolaus Ernst Kerstens zu Hechthausen vom 2. Juni 1787. In: StA Stade, Rep. 74 Himmelpforten Nr. 938.

[18]
Vorstellung des Landrats und Bürgermeisters Terminger, mandatario nomine des Amtmannes Hintze, wie auch des Regierungs-Secretair Dodt, die in Vorschlag gekommene Sperrung der Schleuse zu Cranenburg betreffend, o. Datum, präs. 30. Nov. 1787. In: StA Stade, Rep. 80 Wasserbau, Tit. 219, Nr. 5.

[19]
Stader Regierung an Gerichtsverwalter Kerstens, Hechthausen, vom 4.Dezember 1787. In: StA Stade, Rep. 80 Wasserbau, Tit. 219, Nr. 5.

[20]
Der folgende Abschnitt basiert auf Textpassagen aus Norbert Fischer: Vom Hamburger Umland zur Metropolregion – Stormarns Geschichte seit 1980. Hamburg 2008; ders.: Die modellierte Region – Stormarn und das Hamburger Umland vom Zweiten Weltkrieg bis 1980. Neumünster 2000; ders.: Regionale Identität im Hamburger Umland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Eine Problemskizze. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 93, S. 199-214

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