4. Schluss

So hatte also der Kult um Tod, Trauer und Gedächtnis auch seinen "malerischen" Ort gefunden - im wahrsten Sinn des Wortes. Auch von der Kunst wurde abgebildet, was sich in der Landschaft der Denk- und Grabmäler zeigte - unter wechselseitigem Einfluss.

Dieser Kult um Tod und Gedächtnis, dessen Nachwirkungen wir bis heute erleben, hatte, wie gesagt, seine Wurzeln im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Der französische Historiker Pierre Nora hat einmal die Entstehung von "Gedächtnisorten" ("lieux de mémoire") mit dem Auseinanderfallen von "Gedächtnis" und "Geschichte" begründet. Nora zufolge bedeutete die "Historisierung" von Gesellschaft und Kultur, der Beginn moderner Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert zugleich das Ende eines gesellschaftlich gelebten Gedächtnisses - weil sie nämlich Distanz zur eigenen Vergangenheit schafft.

Erst diese reflektierte Distanz sorgt dafür, dass dem Gedächtnis nun besondere Orte, Räume, Landschaften gewidmet werden. Erst jetzt entfaltet sich der Gedächtniskult im öffentlichen Raum, der bis heute in zahllosen Denkmälern, Memorials, Grabsteinen und Gedenkstätten zu besichtigen ist. Ich habe Ihnen einige Beispiele gezeigt. Denkbar wäre es, die ganz unterschiedlichen Gedächtnislandschaften in Stadt und Land einmal zu kartografieren. Studiert man sie in ihrem je eigenem kulturellen und sozialen Kontext, so könnten diese Studien zu einer umfassenden "Archäologie der Erinnerung" beitragen.

Auch in der Gegenwart entstehen immer wieder neue Orte und Landschaften des Gedächtnisses - auf Friedhöfen, aber auch im öffentlichen Raum. Naturnah modellierte Aschenlandschaften - beispielhaft in Karlsruhe zu bewundern ? bilden ebenso wie großzügig gestaltete Gemeinschaftsgrabstätten neue, überindividuelle Orte von Tod und Trauer. Der Hamburger "Garten der Frauen", 2002 eingerichtet, ist ein anschauliches Beispiel.

Gänzlich neue Wege werden mit der Baumbestattung beschritten, bei der die Aschenurne in den Wurzelbereich von Bäumen eingelassen wird. Populär wurde diese Idee unter dem Begriff Friedwald - ein in der Schweiz geborenes und inzwischen auch in Deutschland mit 12 Anlagen verbreitetes Konzept von Beisetzungen in der freien Waldlandschaft, jenseits der klassischen Friedhöfe.

Auch auf andere Weise erobern Tod, Trauer und Gedächtnis zunehmend den öffentlichen Raum: Gedenkkreuze am Straßenrand zur Erinnerung an Verkehrsopfer sind mittlerweile weithin bekannt - schließlich ist die Straße ein öffentlicher Raum, der wie nur wenige andere als Symbol der modern-mobilen Gesellschaft gilt.

Zugleich werden die alten Orte von Tod, Trauer und Gedächtnis geschätzt und bewahrt. Die Gedächtnislandschaften der bürgerlichen Parkfriedhöfe sind schließlich noch überall zu besichtigten. Sie werden inventarisiert und unter Schutz gestellt. Es scheint, als verleihe die drohende Verflüchtigung der bisher vertrauten Muster von Tod, Trauer und Erinnerung den alten Friedhöfen eine melancholisch gefärbte Faszination. Im historisch durchwirkten Raum des Sepulkralen sind noch einmal Epochen zu besichtigen, deren Gedächtniskultur bis in die Gegenwart nachlebt und nachwirkt - sie hat für Tod, Trauer und Erinnerung eine ganz besondere "Gestalt" und unverwechselbare Orte geschaffen ...

Nicht umsonst schrieb der französische Historiker Pierre Nora: "Das Interesse an jenen Orten, an die sich das Gedächtnis lagert ... , rührt von diesem besonderen Augenblick unserer Geschichte her. Wir erleben einen Augenblick des Übergangs, da das Bewusstsein eines Bruchs mit der Vergangenheit einhergeht mit dem Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses, zugleich aber ein Augenblick, da dies Abreißen noch soviel Gedächtnis freisetzt, daß sich die Frage nach dessen Verkörperung stellt."

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