2. 2. Friedhofs- und Grabmallandschaften

Kommen wir zu anderen, den klassischen Orten von Trauer, Erinnerung und Gedächtnis: den Friedhöfen und Grabstätten. Vor allem im 19. Jahrhundert entwickelten sie sich ebenfalls zu wahren Gedächtnislandschaften. Als romantische Landschaftsgärten bildeten sie eine erhabene Kulisse für den gestaltungsreichen Grabmal- und Gedächtniskult des bürgerlichen Zeitalters. Der Friedhof wurde zu einem zentralen öffentlichen Raum der Gedächtniskultur. Im 19. Jahrhundert wurden Tod, Trauer und Gedächtnis im Friedhofsraum zu einem neuartigen gesellschaftlich-kulturellen Koordinatensystem verknüpft.

Wie war es dazu gekommen? Werfen wir zunächst einen Blick auf die allgemeine Friedhofsgeschichte. Der heute geläufige Begriff "Friedhof" meint einen umfriedeten Raum und ist zum allgemeinen Sammelbegriff für Begräbnisplätze geworden (deren Bezeichnungen im Übrigen historisch und regional differieren können). Der nzl. Friedhof entwickelte sich aus dem ma.-christl."Kirchhof”, dessen Verortung seinerseits auf der vom altgläubigen Christentum ersehnten Nähe der Bestattung zu den Reliquien bzw. liturgischen Handlungen im Kirchengebäude beruhte. Galt die Beisetzung in sowie direkt an der Kirche als soziales Privileg, so entwickelte sich jener Teil des Raumes um das Gotteshaus, der im Mittelalter als "coemeterium" (Schlaf-, Ruhestätte) bezeichnet wurde, zum allgemeinen Bestattungsplatz der christlichen Bevölkerung - zumeist in Form von immer wieder neu geöffneten Gemeinschaftsgruben.

Hygienisch motivierte Kritik an den meist überbelegten Kirchhöfen einerseits, der religiös-soziale Aufbruch der Reformation andererseits läuteten in den Städten in einem ? allerdings Jahrhunderte währenden ? Prozess das Ende der Kirchhofsbestattung ein. In Einzelfällen schon vor Nürnberg, St. Johannis/St. Rochus, 1519), in der Regel jedoch im Anschluss an die Reformation ? die einen Zusammenhang zwischen Bestattungsort und jenseitigem Seelenfrieden negierte ? kam es zur Anlage außerstädtischer Begräbnisplätze. Diese Verlegungswelle des 16. Jh. markiert den Beginn nzl. Friedhofskultur. Wie schon die Kirchhöfe, so zeigten sich auch die neuen außerstädtischen Friedhöfe nach heutigen Maßstäben als ungepflegt und wurden unregelmäßig belegt.

Im Zuge von Aufklärung, Reform und Bevölkerungswachstum kam es im 18. Jh. und frühen 19. Jh. zu einer neuerlichen, diesmal umfassenderen Welle von Friedhofsverlegungen. Sie war meist verbunden mit einer zunehmend an hygienischen Kriterien orientierten und durch Bestattungsreglements geordneten Belegungspraxis. Europaweite Vorbilder waren Frankreich und Österreich. Die aufklärerisch motivierten Bestattungsreformen und Friedhofsverlegungen brachten eine Reihe großer, historisch bedeutsamer Begräbnisplätze hervor: u.a. Assistens-Friedhof in Kopenhagen (1760), Alter Südlicher Friedhof in München (1789), La Certosa in Bologna (1801), Père Lachaise in Paris (1804), V?r Frelsers in Oslo (1808), Melaten in Köln (1810), Glasnevin Cemetery in Dublin (1832). Zugleich vollzog sich eine schrittweise Ästhetisierung der Friedhofsanlagen.

Inmitten dieser im prachtvoller ausfallenden Friedhöfe wurde das Grabdenkmal zum repräsentativen Ausdruck von Bürgerlichkeit. Es gebot der Nachwelt, die Lebensleistung auch nach dem Tod zu erinnern und zu würdigen. Der bürgerliche Lebenslauf des 19. Jahrhunderts sah seine Mission idealerweise in der geradlinigen Verwirklichung des selbstgesteckten Lebensziels - hatte sich der eigene Traum vom Fabrikanten oder Kommerzienrat erfüllt, lohnte auch die Verewigung im prachtvollen Grabmal. Damit schuf es eine Art weltlicher Unsterblichkeit. Im prachtvollen Grabmal fand die Feier der bürgerlichen Biografie ihren letzten, steinernen Höhepunkt.

Dies drückte sich in stellenweise monumentalen Grabdenkmälern, gestenreichen Grabfiguren, in Porträtreliefs des Verstorbenen und lobpreisenden Inschriften. In deren Sprache, vor allem aber in der Gestik der Grabfiguren, verschmolz er mit einer emotionsgetönten Trauerkultur, die den Tod als Abschied in einen langen Schlaf verstand. Die Figur der Trauernden beispielsweise mit ihrem wehmütig-hingebungsvollen Blick zählt zu den auffälligsten Grabmalformen. Stehend, gebückt, sitzend oder in sich zusammengekauert, ist sie in vielen Varianten zu finden. Das Gefühl von Abschied und Trauer wurde von einer als spezifisch gefühlsselig verstandenen "Weiblichkeit" verkörpert - zugleich typischer Ausdruck der gesellschaftlichen Rollenverteilung im 19. Jahrhundert. Die unschuldige Reinheit der "Trauernden" verkörperte eine gleichsam säkularisierte Erlösungshoffnung im Jenseits - zugleich verkörperten sie Prestige und Wohlstand der hier Bestatteten.

Wie gesagt, bildeten diese Grabmäler Teile einer regelrechten Gedächtnislandschaft. Parallel zum Grabmalkult nämlich entwickelten sich die städtischen Friedhöfe zu garten- oder parkähnlich gestalteten Anlagen - eine von Natursehnsucht getönte Kulisse für die Grabmäler. Im 19. Jahrhundert wurde der Parkfriedhof geradezu zum Leitbild sepulkraler Ästhetik. Der Parkfriedhof bildete die angemessene Kulisse für einen Grabmalkult, der noch im Tod vom Prestigebewußtsein all jener Fabrikanten und Kommerzienräte kündete, die sich auf den Begräbnisplätzen verewigen wollten. "Rennbahnen des Ehrgeizes" nannte man jene Prachtwege, an denen die bedeutendsten Grabstätten lagen. Auf dem Friedhof Köln-Melaten ist das spöttisch gemeinte "Millionen-Allee" mittlerweile zur friedhofsoffiziellen Bezeichnung geworden.

Es war das Ideal des englischen Landschaftsgartens, dass im 19. Jahrhundert die Friedhofsästhetik prägte. Die für den "englischen Stil" typischen geschwungenen Wege vermittelten die ersehnte Nähe zur vermeintlich unverfälschten Natur.

Allerdings setzte sich dieses Landschaftsideal nur schrittweise durch. Wichtige Etappen bildeten der ab 1813 umgestaltete Braunschweiger Domfriedhof, der Golzheimer Friedhof in Düsseldorf (Erweiterung ab 1816) und der 1828 eröffnete Frankfurter Hauptfriedhof. Der 1869 eingeweihte Kieler Südfriedhof (damals als Neuer Friedhof bezeichnet) wurde in seiner Gesamtanlage im landschaftlichen Stil mit künstlichem Hügel und Teich gestaltet. Nach Ansicht des für den Entwurf verantwortlichen Landschaftsgärtners Wilhelm Benque sollten sich die einzelnen Grabfelder "organisch" aneinander legen.

Auffälliger als in Deutschland zeigte sich die Tendenz zum landschaftlich gestalteten Friedhof in anderen Ländern. In Frankreich wurde der 1804 eröffnete neue Pariser Friedhof Ostfriedhof - heute besser bekannt unter dem Namen Père Lachaise - als malerischer Landschaftsgarten eingerichtet. Später wurden vor allem im angloamerikanischen Raum etliche "rural cemeteries" angelegt: beispielsweise Mount Auburn in Cambridge/Massachusetts (1831), Laurel Hill Cemetery in Philadelphia (1836), Greenwood Cemetery in Brooklyn/New York (1838) und andere nordamerikanische Parkfriedhöfe sowie der Londoner Friedhof Little Ilford (1856).

In Deutschland schließlich fand der "englische Stil" seinen Höhepunkt im 1877 eröffneten Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. In seiner harmonischen Synthese aus Natur, Kultur und Technik wurde er zum sepulkralen, international viel gerühmten "Gedächtniskunstwerk". Wie kein anderer Großfriedhof in Deutschland repräsentierte Ohlsdorf die Sehnsucht nach einem möglichst naturnah gestalteten Raum der Trauer- und Gedächtniskultur. Seine Natur- und Landschaftskulisse, die den Tod in die Pracht der Bäume und Sträucher, Hügel, Bäche und Teiche regelrecht einbettete, wurde zu einem sonntäglichen Ausflugsziel der großstädtischen Bevölkerung. Nicht zufällig erhielt der Ohlsdorfer Friedhof auf der Pariser Weltausstellung 1900 den Großen Preis für Gartenkunst.

Gut zwanzig Jahre nach seiner Eröffnung jedenfalls präsentierte sich der Friedhof mit seinen idyllischen Teichanlagen und Bachläufen, verschlungenen Wegen, künstlich geschaffenen Hügeln und betont abwechslungsreichen Bepflanzung als Gesamtkunstwerk aus Natur, Kunst und Technik. Die bunte Vielfalt keineswegs nur heimischer Pflanzen und Bäume wie auch die Anlage eines "Geologischen Hügels" verwiesen zugleich auf pädagogische Absichten: Der Friedhof war nicht nur eine Stätte der Pietät, sondern hatte als botanisch-geologisches Freilichtmuseum moralisch-belehrende Funktionen und reihte sich damit ein in die kulturell-pädagogischen Reformbestrebungen der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg.

Im Jahr 1906 konnte man in einer Illustrierten lesen: "Nie wird man müde, den Sinn zu bewundern, der hier schaffend gewaltet. Der die Brücken schlug von Natur zu Kunst, von Kunst zu Natur. Zu höherer Einheit ist beides hier verbunden. Man wandelt wie in einer anderen Welt, wo die Gegensätze sich aufheben."

Kein Wunder, dass andere Friedhöfe dem Vorbild Ohlsdorf bald folgten: so Köln (Nord- und Südfriedhof, 1895/96 bzw. 1900) und Hannover (Erweiterung Stöckener Friedhof, 1901).

Der städtische Friedhof war also zu einer regelrechten Gedächtnislandschaft geworden. Dies war auch so beabsichtigt, wie der Schöpfer des Ohlsdorfer Friedhofes, Wilhelm Cordes, programmatisch schrieb: "In der richtigen malerischen Vereinigung von Architektur, Sculptur und Landschaftsgärtnerei liegt ein weiter Spielraum für die Phantasie und ein unerschöpfliches, freies Arbeitsfeld; und ein Friedhof, nach diesen Gesichtspunkten geleitet, könnte vorbildlich werden für das harmonische Zusammenwirken von Architektur, Sculptur und Landschaftsgärtnerei."

Die landschaftliche Gestaltung des Ohlsdorfer Friedhofs basierte auch auf grundlegenden Veränderungen der bürgerlichen Mentalität im Verlauf des 19. Jahrhunderts - Veränderungen, die die Erfahrung des Spaziergängers, des "Flaneurs" mit seinem betrachtenden Blick, einbeziehen. Der Friedhof als Gedächtnislandschaft war bei weitem nicht nur für die Hinterbliebenen konzipiert, sondern für ein promenierendes Publikum.

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