5. Kapitel 4: Kriegstod, Massenvernichtung und kollektives Totengedenken: Das 20. Jahrhundert

Nie zuvor waren so viele Menschen vom Massentod betroffen wie im 20. Jahrhundert. Die industrialisierte Technik offenbarte in den beiden Weltkriegen ihr zerstörerisches Potenzial, das sich dann auf tragische Weise in den endlos scheinenden, uniformen Gräberreihen der riesigen Soldatenfriedhöfe widerspiegelte. So brachten die Weltkriege neue, in ihrer Tragik nie gekannte Formen des Umgangs mit Tod und Trauer hevor. Dennoch wurde das Massensterben immer wieder mythisch verklärt - beispielsweise durch Kriegerdenkmäler. Das 20. Jahrhundert wurde zum Synonym eines hochtechnisierten Tötens und Vernichtens. Erst recht zum todbringenden Instrument wurde die einst als fortschrittlich gefeierte Technik unter den Bedingungen von Diktatur und Terror. In den Krematorien der Konzentrationslager wurden die Spuren millionenfacher Verbrechen systematisch vernichtet - zugleich sollte jede Möglichkeit zu Trauer und Totengedenken ausgelöscht werden (dem sich erst nachträgliche Trauer- und Erinnerungsarbeit gesellschaftlich widersetzte ...).

Der Erste Weltkrieg 1914-1918 war der erste jener Kriege, in denen die industrialisierte Technik fatale Folgen zeitigte.i Minen, Handgranaten und Maschinengewehre kamen zum Einsatz und sorgten für millionenfaches Leid. Der Krieg kostete insgesamt 13 Millionen Menschen das Leben, mehr als doppelt soviele wie in allen Kriegen zwischen 1790 und 1914 zusammen. Statt des Todes in der einzelnen, zeitlich begrenzten Schlacht wurde das Sterben in den Schützengräben etwas Alltägliches. Hier wurde der Tod allgegenwärtig. Fast jedes Dorf war vom Kriegstod betroffen, und noch die kleinsten Tageszeitungen füllten sich in den ersten Kriegsmonaten rasch mit Todesanzeigen. Der Kriegstod blieb in den Folgejahren ein steter Weggefährte - und wurde in der Presse weiterhin zum "Heldentod" verklärt. Umgekehrt wurden, mit fast trotzigem Stolz, militärische Beförderungen gemeldet. Das Bild vom Kriegstod fernab der Schützengräben hatte häufig etwas Verharmlosendes, ja Verniedlichendes an sich. Druckgrafiken, Postkarten und Nippes, vor allem aber die Presseberichterstattung sollten die Kriegsgegner herabwürdigen und die eigenen Taten verklären.ii

Aber Feldpostbriefe kündeten von einer anderen Realität, wie der folgende vom November 1914: "Ihr könnt Euch ja gar nicht ausmalen, wie so ein Schlachtfeld aussieht, man kann es nicht beschreiben ... alle hundert Meter ein neuer Schützengraben, und überall Tote, reihenweise. ... Und jede Trupe, die zur Unterstützung vorgeht, muss kilometerweise durch dieses Chaos hindurch, durch Leichengestank und durch das riesige Massengrab."iii

Trotz allem Leid kam es häufig zu nachträglichen Verherrlichungen. In dem 1920 erschienenen Buch "In Stahlgewittern" von Ernst Jünger scheint immer wieder die fragwürdige Faszination durch, die das technisierte Töten auf den Schriftsteller ausübte: "Gegen Mittag", so heißt es bei Jünger, "schwoll das Artilleriefeuer zu wüstem Tanze an. Ununterbrochen flammte es um uns auf. Weißes, schwarzes und gelbes Gewölk mischte sich. ... Dazwischen zwitscherten zu Dutzenden die Zünder mit ihren eigenartigen, an Kanarienvögel erinnernden Gesang. Mit ihren Ausschnitten, in denen die Luft sich mit trillerndem Flöten verfing, zogen sie wie kupferne Spieluhren oder wie eine Art von mechanischen Inseken über die lange Brandung der Einschläge dahin."iv

Der Tod in den Schützengräben wurde nach Kriegsende im Gefallenenkult nationalistischer Kreise zum Mythos verklärt. In Deutschland, das seine politisch-gesellschaftliche Identität nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches noch längst nicht gefunden hatte, wurde dieser Gefallenenkult zum zentralen Element nationalistischer Ideologien. Vor diesem Hintergrund erlangten auch die neu angelegten Soldatenfriedhöfe ihre hohe symbolische Bedeutung und konnten politisch instrumentalisiert werden.

Der Soldatenfriedhof im heutigen Verständnis entstand in Europa erst im Umfeld des Ersten Weltkrieges. Zuvor waren Gefallene in der Regel in anonymen Massengräbern beigesetzt worden. In den USA dagegen wurde bereits 1862 die Anlage von Soldatenfriedhöfen gesetzlich geregelt. In Gettysburg, Schauplatz einer der Entscheidungsschlachten des amerikanischen Sezessionskrieges, wurde Ende 1863 ein Teil des Schlachtfeldes zum offiziellen Soldatenfriedhof. Zur bekanntesten Einrichtung dieser Art wurde der amerikanische Nationalfriedhof Arlington bei Washington. Der erste deutsche Soldatenfriedhof entstand im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71, wurde aber noch nicht zu einer jenen nationalen Gedenkstätten wie die Soldatenfriedhöfe des frühen 20. Jahrhunderts. Immerhin wurde im Friedensvertrag von 1871 vereinbart, daß die vorhandenen Gräber auf dem gegnerischen Territorium erhalten und gepflegt werden sollten.v

Der Erste Weltkrieg mit seinen zahllosen Opfer, die die industrialisierte Kriegstechnik forderte, stellte das Totengedenken vor eine neue Aufgabe. Noch zu Kriegszeiten wurden in Deutschland, Großbritannien und Frankreich die Voraussetzungen geschaffen, um - soweit möglich - den Toten einzelne Gräber zuzuweisen. Frankreich erließ 1915 ein Gesetz, wonach alle Kriegstoten ewige Ruhe zugesichert wurde, andere europäische Staaten folgten. Dies war auch ein Ergebnis nationalstaatlicher Identitätssuche: "Der den Helden der Nation vorbehaltene Soldatenfriedhof sollte innerhalb des Mythos vom Kriegserlebnis eine zentrale Aufgabe erfüllen." vi In Der Versailler Friedensvertrag von 1919 sah völkerrechtlich die gegenseitige Erhaltung der Gräber vor. Dabei wurde fein säuberlich nach Nationalität getrennt, nur selten fanden die eigenen Toten auf des Kriegsgegners Soldatenfriedhof die letzte Ruhe - lieber exhumierte man bereits bestattete Leichen und überführte sie. In Deutschland gab es während des Krieges besondere Einheiten und Offiziere, die sich um diese Aufgabe kümmerten. Zugleich kamen Bestimmungen für die dauerhafte Pflege von Kriegsgräbern heraus. Man begann, die einzelnen Gräber in Friedhöfen zu vereinigen. Jeder Staat war für die Pflege der auf seinem Territorium liegenden Soldatenfriedhöfe zuständig.vii

Allerdings war der in Deutschland offiziell zuständige staatliche "Deutsche Gräberdienst" auf Grund der schwierigen wirtschaftlichen Situation den umfangreichen Aufgaben nicht gewachsen. So kam es nach Kriegsende zu nicht-staatlichen Initiativen, die sich um die Kriegsgräberstätten kümmerten. Nachdem zunächst regionale Organisationen entstanden waren, wurde auf dieser Basis am 16. Dezember 1919 in Berlin der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gegründet. Getragen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessengruppen, waren zunächst nationalistisch-chauvinistische Tendenzen ebenso vertreten wie pazifistische und gewerkschaftliche. Dem Gründungsvorstand gehörten sowohl der Kriegerverein "Kyffhäuser-Bund" als auch der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund an, der Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als Symbolfigur der politischen Rechten ebenso wie der liberale Politiker und spätere Außenminister Walther Rathenau (der 1922 von rechtsextremistisch-antisemitischen Offizieren ermordet wurde). Ende Februar 1921 erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift "Kriegsgräberfürsorge". Der Volksbund breitete sich rasch aus: Ende 1922 verfügte er über mehr als 530 Ortsgruppen mit rund 60 000 Mitgliedern, 1925 waren es rund 75 000 Mitglieder, 1932 rund 131 000.viii

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge verstand sich vor allem als Sachwalter von Soldatenfriedhöfen. Er bildete damit die entscheidende Instanz für den Umgang mit dem Kriegstod und die Ausgestaltung der Gefallenengedenkens. Hauptziel war zunächst die Herrichtung, Schmuck und Pflege der Soldatenfriedhöfe im In- und Ausland. Die Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkrieges ähnelten sich zunächst in allen Nationen und orientierte sich am britischen Vorbild, das die einheitlich gestalteten Gräber um ein Opferkreuz und Gedenkstein (manchmal auch eine Kapelle) gruppierte. "Die Grundelemente der englischen Soldatenfriedhöfe brachten die Verbindung zwischen den Gefallenen und dem Opfertod Christi mit seiner Hoffnung auf eine Auferstehung zum Ausdruck", schreibt George L. Mosse. Neben der christlichen Symbolik prägten weite Rasenflächen die Anlagen. Die Form der Grabsteine war national unterschiedlich, aber immer einheitlich: Britische Soldatenfriedhöfe kannten die Stele, französische das Betonkreuz mit Namenplakette. Aber schon bald legte man in Deutschland Wert auf eine besondere Gestaltung. Beispielsweise verwendete man Eisenkreuze - sie erinnerten an das Eiserne Kreuz als deutsche Kriegsauszeichnung.ix

Das Hauptaugenmerk des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge richtete auf Frankreich. Hier lag die höchste Zahl Gefallener aus dem Ersten Weltkrieg. Die wichtigsten Vorarbeiten waren bereits geleistet. Der französische Gräberdienst hatte die auf einer Vielzahl kleiner Friedhöfe verstreut liegenden Toten umgebettet und in teilweise neu geschaffenen Anlagen zusammgenfaßt (darunter Neuville-St.-Vaast mit über 36 000 Einzelgräbern). Die meisten dieser insgesamt 209 Anlagen bestanden aus langen Reihen einfacher Holzkreuze ohne Bepflanzung und Abgrenzungen.x

Der Volksbund strebte danach, diese schmucklosen Anlagen architektonisch und landschaftsgärtnerisch umzugestalten. Dazu wurden unter anderem Hecken, Bäume und Rasen, Hochkreuze und kleine Kapellen für die Gesamtanlage, Natursteineinfassungen und Bepflanzungen für einzelne Grabstätten verwendet.xi Deutsche Soldatenfriedhöfe sollten ein besonderes "deutsches Empfinden" ausdrücken: "Es liegt nahe, einen Vergleich zwischen den eigenen und fremden, besonders englischen und amerikanischen Friedhöfen zu ziehen. Aber trotz der Pracht, die diese Anlagen aufweisen, entsprechen sie nicht deutschem Empfinden. Und wenn wir noch soviel Mittel aufwenden könnten, wir wir dieser Art Gestaltung nicht folgen.Das deutsche Empfinden ist tiefer, es will Weihestätten, an denen die Seele stillen Gottesdienst feiern kann. Unsere Kriegsgräberstätten sollen in ihrem Ernst, ihrer ganz großen Schlichtheit deutschen Glauben und deutschen Opfergedanken verkörpern und in fremder Erde Heimat - Vaterland werden."xii

Damit sollte der gefallene Soldat als Individuum gänzlich gegenüber dem als organisches Ganzes verstandenem "deutschen Vaterland" zurücktreten. Um dieses auch äußerlich rigoros durchzusetzen, unterlag die Ausgestaltung der deutschen Soldatenfriedhöfe strengen Richtlinien. Blumenbepflanzungen an den Gräbern waren untersagt, das Rasengrün bildete den einzigen Schmuck.xiii 1929 hieß es dazu in der Zeitschrift "Kriegsgräberfürsorge" aus der Feder eines führenden Repräsentanten des Volksbundes: "Das ist kein bequemes Einebnen und herzloses Gleichmachen, sondern der innerlich begründete Ausweg zu dem Ziel, sie alle in einem geistbelebten Denkmal zusammenzufassen, deren vereinte Kraft sich für uns weihte. Das Persönliche geht auf in der großen Schicksals- und Grabesgemeinschaft der Gefallenen. Da sind zusammengeballt Einzeltat und Heeresleistung, Einzelopfer und Volksopfer; das Ich wird zum Wir! Ein Herzschlag, ein Geist, ein Wille, im Verband der Waffenbrüder jeder ‚ein Stück von mir‘. Was das Leben und das Sterben vereinte, kann auch das Grab nicht scheiden."xiv

Der Schriftsteller Erich Kästner sah das anders, als er den Besuch eines Soldatenfriedhofs zum Anlaß nahm, kritische Verse gegen Krieg und Militarismus zu dichten: "Da liegen wir/den toten Mund voll Dreck./Und es kam anders, als wir sterbend dachten./Wir starben. Doch wir starben ohne Zweck./Ihr lasst euch morgen, wie wir gestern, schlachten."xv

1931 betreute der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge allein in Frankreich 70 Friedhöfe mit über 324 000 Gefallenen. In einer zeitgenössischen Broschüre zu den deutschen Soldatenfriedhöfen in Frankreich hieß es: "Besondere Schwierigkeiten bereitet die Behandlung der Gräberflächen. Auf sie hat der Volksbund daher seine besondere Aufmerksamkeit gerichtet. Die Erfahrungen haben gelehrt, dass weder Einzelhügel noch erhöhte Grabbeete von Dauer sind. Hochstehende Grabkanten werden durch Witterungseinflüsse mit der Zeit zerstört. Auch niedrige Steineinfassungen gewähren selten Schutz, da sie leicht vom Regen unterspült werden. Damit die Gräberflächen dauernd in ordentlichem Zustand erhalten bleiben, müssen sie flächig bepflanzt oder besät werden."xvi Die deutschen Soldatenfriedhöfe im Ausland wurden zu regelrechten "Wallfahrtsorten" und "Stätten nationaler Andacht". Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde der Mythos vom Kriegstod durch organisierten Fahrten und Zeremonien immer wieder wach gehalten.

Auch auf den in in Deutschland angelegten Soldatenfriedhöfe wahrte man strikte Einheitlichkeit. Dies zeigt das Beispiel des Soldatenfriedhofs auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg - noch immer heißt die Straße, an der er liegt, bezeichnenderweise "Kriegerehrenallee". Auf einer weiten Rasenfläche stehen uniforme Reihen von einfachen Sandstein-Stelen in Kopf-an-Kopf-Belegung. Sämtliche Stelen weisen exakt die selben Abmessungen auf: 65 cm hoch, 35 cm breit und 8 cm tief.xvii

Paradoxerweise wurde angesichts der uniformen Gestaltung der Soldatenfriedhöfe immer wieder Furcht vor einer "seelenlosen" industrialisierten Massenproduktion der Grabsteine laut. In antimoderner Wendung wurde kulturkritisch die vermeintlich heile Welt der vorindustriellen Epoche beschworen. George L. Mosse schreibt: "Der Kampf gegen die Massenherstellung von Grabmalen und anderen Monumenten für die Gefallenen gehörte zu dem stets neu aufflammenden Konflikt zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Der Gefallenenkult gehörte fraglos zur Sphäre des Heiligen, und er musste vor einer Trivialisierung geschützt werden, die sich mit Erfolg zahlreicher Gegenstände und Symbole des Krieges bemächtigte. Die Kriegstoten waren der Gegenstand eines Kultes, einer säkularisierten Religion, die allein schon dem Wesen nach etwas Außergewöhnliches war. Die vorindustrielle Symbolik der Nation befriedigte auch die Bedürfnisse des neuen Kults."xviii

Zum Höhepukt nationaler Erhabenheit wurden die von Robert Tischler, der ab 1926 für über 30 Jahre als Chefarchitekt des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge wirkte, entworfenen "Totenburgen".xix Tischler entwarf bis zum Zweiten Weltkrieg ein Dutzend dieser Totenburgen, die übrigens auch Adolf Hitler gefielen. Überhaupt arbeitete der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der politisch immer mehr nach rechts gerückt war, mit den Nationalsozialisten eng zusammen.xx Einer der Gründungsväter des Volksbundes, Siegfried Emmo Eulen, schrieb im Editorial der Volksbund-Zeitschrift "Kriegsgräberfürsorge" Anfang 1935 über das Verhältnis zur NS-Diktatur und zu Hitler: "Hingabe ist mehr als Pflicht, die von Vielen verlangt und erfüllt wird. Hingabe ist dargebrachtes Opfer. Der Volksbund kennt nur dieses, weil er für die Verewigung des heldischen Opfergedankens kämpft ... Der Führer lebt mit in unserem Werke. ... So schlagen unsere Herzen ihm entgegen und geloben, sich auch im neuen Jahre dem Werke der Heldenehrung hinzugeben, auf dass es aus deutscher Sehnsucht und deutschem Glauben weiterwachse."xxi Während des Zweiten Weltkriegs wirkten Architekten des Volksbundes bei der Anlage der ersten Soldatenfriedhöfe in Polen, Norwegen, Belgien, Holland und Frankreich mit.

Natürlich: Der Pathos des Kriegstodes blieb nicht auf Deutschland beschränkt. In Paris und London gab es 1920 pompöse Zeremonien bei der Einweihung des Grabmals des Unbekannten Soldaten. Aber hier fehlte jene politische Brisanz, die der Kriegstod des Ersten Weltkriegs in Deutschland durch die sogenannten "Dolchstoßlegende" erhielt - durch das Gefühl, "im Krieg unbesiegt" geblieben und erst durch Verhandlungen von Politikern "verraten" worden zu sein.

Dieser Symbiose von Politik, nationalistischer Ideologie und einem mythisch verbrämten Deutschtum entsprach es, dass die Soldatenfriedhöfe mit vermeintlich "deutscher" Natur verbunden wurden. Dazu erkor man sich Bäume aus, insbesondere Eichen. Baumbestandene Toten- und Heldenhaine wurden zum "erhabenen" Ort stilisiert: "In den Heldenhainen verband sich nationale Symbolik in Eichen und Findlingen mit der Symbolisierung des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen in der Natur. Tod und Erneuerung in der Natur verwiesen auf Elementarkräfte, die auch den Frontsoldaten zugesprochen wurden ...."xxii

Übrigens blieb die Gestaltung der Kriegsgräberstätten nicht ohne Auswirkung auf die zeitgenössische Friedhofsästhetik. Ausdrücklich wurde auf ihre Uniformität verwiesen, als es - wie im zweiten Kapitel erläutert - um den Reformfriedhof der 19020er-Jahre ging. Schon im Verlauf des Ersten Weltkriegs hatten reformorientierte Architekten und Gestalter bei dem Versuch mitgewirkt, angemessene Begräbnisplätze für die zahllosen Gefallenen zu schaffen. Der Deutsche Werkbund widmete sein Jahrbuch 1916/17 vollständig dem Thema "Kriegsgräber und -denkmäler".xxiii So trugen kriegsbedingtes Massensterben und Totengedenken letztlich auch zu einer neuen uniformen, das Individuum negierenden Friedhofsästhetik bei. Sie bestätigen damit auf ihre Weise Modris Eksteins' These von den Knotenpunkten zwischen den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Kultur der Moderne.xxiv

Neben den Soldatenfriedhöfen bildeten die Kriegerdenkmäler ein weiteres Element des Totengedenkens.xxv Fast jeder Ort ließ in den 20er-Jahren ein eigenes Gefallenendenkmal errichten (oder ergänzte bereits bestehende Denkmäler, meist von 1870/71, um neue Inschriften). Ihre Inschriften transzendierten den Kriegstod in aller Regel als "Opfer für das Vaterland". Ein Beispiel für manchmal vorherrschende Monumentalität war das im Münchener Hofgarten errichtete Kriegerdenkmal: Ein Travertinblock überdeckt eine Gruft, die die vom Bildhauer Bernhard Bleeker geschaffene Marmorfigur eines Frontsoldaten aufnimmt. Die Wände des Ehrenhofs - sie wurden durch einen Bombenangriff 1945 zersötrt - enthielten die Namen aller Gefallenen. Solche Denkmale waren häufig auch Ziele für Reisende. Übrigens war damals die Idee, Denkmäler auch für "einfachen Soldaten" zu stiften, historisch kaum älter als 100 Jahre. Erst seit den sogenannten Befreiungskriege 1813 waren nicht mehr, wie zuvor, allein die "Feldherren" denkmalwürdig erschienen.xxvi

Nicht selten entstanden Kriegerdenkmäler auch auf Friedhöfen, manchmal als Mittelpunkt einer kleineren Anlage zur Beisetzung von Gefallenen oder anderen Kriegsopfern. Auf dem Heidelberger Bergfriedhof beispielweise wurde ein Denkmal für die im Rahmen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 im örtlichen Lazarett verstorbenen Soldaten errichtet. Gestaltet im historisierenden Neuklassizismus, verherrlicht es den Kriegstod durch die Darstellung von Kriegsgerät.xxvii Das Ehrenmal auf dem Stuttgarter Fangelsbach-Friedhof erinnert an die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 sowie des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Das im Zweiten Weltkrieg durch eine Fliegerbombe stark zerstörte Denkmal zeigte eine mächtige Figur des "Vaterlandes", auf einem Sarkophag thronend und Lorbeerkränze in den Händen haltend.xxviii Auf dem Leipziger Südfriedhof erinnert ein monumentaler Pfeilerrundbau an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten des 107. Infanterie-Regimentes, dem Stammregiment der Leipziger Garnison. An den Außenwänden wurden bronzene Kriegerköpfe angebracht - darunter sind die Namen jener Schlachtfelder verzeichnet, auf denen die Soldaten fielen.xxix

Eine andere Variante des - immer chauvinistischer gefärbten - Totengedenkens in den 1920er-Jahren bildete der "Volkstrauertag". Frühzeitig zielte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf seine Einrichtung. 1925 war auf Anregung des Volksbundes vom Reichsinnenministerium zunächst der Sonntag Invocavit (erster Sonntag der Fastenzeit) per Erlaß zum Volkstrauertag erklärt worden - das bedeutete: Vergnügungsveranstaltungen sollten unterbleiben, halbmast geflaggt und die Gedenkfeiern des Volksbundes unterstützt werden.xxx 1926 wurde er auf den Sonntag Reminiscere verlegt, dem fünften Sonntag vor Ostern. Zunächst Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, wurde er unter den Nationalsozialisten 1934 zum "Heldengedenktag" hochstilisiert.

Die nationalsozialistische Diktatur und der Zweite Weltkrieg vervielfachten das Leiden noch einmal. In Massenserien gefertigte Panzer und andere industriell ausgefeilte Technologien steigerten das im Ersten Weltkrieg begonnene mechanisierte Töten. In der nationalsozialistischen Propaganda wurde privater Schmerz und Trauer politisch instrumentalisiert. Die unterstellte Verbindung mit dem Dienst am "nationalsozialistischen Vaterland" brachte ideologisch aufgeladene Trauerliturgien hervor: "Die Toten wurden zu Opfern, so wurde ihr Sterben idealisiert und zugleich wurden durch die Kraft des Blutes auch Zweifelnde eingebunen in dieses System der legalisierten Kriminalität und der kriminellen Legalität," schrieb der Kulturwissenschaftlicher Utz Jeggle.xxxi Dabei konnte das von den Nationalsozialisten propagandistisch geschürte vermeintliche "Heldentum" auf eben jenen Mythen aufbauen, die im Gefallenenkult nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen worden waren. Symbole wie Feuer und Rauch versinnbildlichten im nationalsozialistischen Heldenkult den Opfertod. Dennoch: Angesichts des massenhaften Sterbens nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch in den deutschen Städten, ließ sich der Heldengedanke während des Zweiten Weltkrieges auf Dauer nicht halten - die "Heldenehrungsfeiern" mußten 1943 in "Gefallenenehrungsfeiern" geändert werden.xxxii

Dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge war es, wie gesagt, nicht schwergefallen, dem nationalsozialistischen System zu dienen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er unbeirrt weiter. Seine Aufgaben vervielfachten sich auf Grund der enorm hohen Zahl und weltweit verstreuten Lage der Kriegstoten. Das Prinzip einheitlicher Grabreihen blieb bei allen Unterschieden in der Gestaltung bestehen. Wurden am Anfang häufig Bodenplatten mit Name, Dienstgrad, Geburts- und Sterbedatum verwendet, so ging man Mitte der 1950er-Jahre zu stehenden Kreuzen über.xxxiii

Zu den bedeutendsten Anlagen nach dem Zweiten Weltkrieg zählt der 1969 eingeweihte Soldatenfriedhof am Futa-Pass zwischen Bologna und Florenz mit seinen über 30 000 deutschen Gefallenen. Das national gefärbte Pathos der Zwischenkriegszeit fand hier keine Fortsetzung. Dem ansteigenden Gelände entsprechend wurde eine zwei Kilometer lange Natursteinmauer, die die Anlage zugleich terrassiert, vom Friedhofseingang hinauf den Hügel geführt, wo sie einen 16 m hohen, abstrakt modellierten Abschluß findet. Die einzelnen Grabstätten sind durch liegende Granitpultsteine gekennzeichnet. Die Freiflächen bestehen aus Rasen mit nur wenigen Bäumen. Wie einer der beteiligten Architekten, Dieter Oesterlen, schrieb, war man bemüht, "kein Pathos in üblicher Gestalt anzuwenden, das Unerbittliche des erlittenen Schicksals und keine Glorifizierung des Krieges darzustellen".xxxiv

Auch bei den nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Denkmälern wiederholte sich die politische Instrumentalisierung des Kriegstodes kaum. Wurden nach 1945 neue Gefallenendenkmäler errichtet, so kannten sie keine Heldengestalten mehr. Wegen der großen Zahl an Toten mußte an vielen Orten auf eine namentliche Nennung verzichtet werden. Statt Nationalismus und Chauvinismus dominierte nun irritierte Sprachlosigkeit oder der schicksalsergebene Rückgriff auf christlichen gefärbten Trost, etwa durch Bibelzitate.xxxv

In der Kunst führte der Kriegstod zu "obsessionellen Verwesungsdarstellungen" (wie bei Otto Dix), "Kadaverästhetik" und regelrechten Leichenbergen, wie Walther K. Lang festhält. Auch Statt des Heldentums in den Schlachtengemälden waren es im späten 20. Jahrhundert die hilflosen Opfer technisierten Tötens, die zum Thema wurden.xxxvi

Technisierung und Industrialisierung ermöglichten nicht nur den millionenfachen Tod im Krieg. Im Holocaust dienten sie auch der systematischen Massenvernichtung. Die nationalsozialistische Diktatur führte das ambivalente Potenzial der Moderne in seiner inhumansten Form vor. Die Industrialisierung des Todes, die im späten 19. Jahrhundert mit der Feuerbestattung begonnen hatte, erreichte in den Krematorien der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager ihren zynisch-brutalen Höhepunkt.

Die Weiterentwicklung der Verbrennungstechnologie ermöglichte es den Nationalsozialisten, die Spuren ihrer millionenfachen Verbrechen systematisch zu beseitigen. Sie bot in den Konzentrations- und Vernichtungslagern die Lösung des Problems, eine große Zahl von Opfern möglichst spurlos zu beseitigen. Die "fabrikmäßige Vernichtung" (Richard J. Evans) begann.xxxvii

Das Lagerleben mit seinem Terror, seinen unmenschlichen Arbeitsbedingungen und den wiederholten Epidemien hatte bereits vor Beginn der systematischen Massenvernichtung viele Häftlinge getötet. Wurden anfangs noch Massengräber ausgeworfen, so bot die Krematoriumstechnologie auf Dauer eine viel bessere Lösung, denn sie hinterließ kaum Spuren. Überdies fügte sie sich perfekt ein in jenes funktionale System, das die Konzentrations- und Vernichtungslager darstellten - in die "Ordnung des Terrors" (Wolfgang Sofsky).xxxviii

Nach und nach wurden die technischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Lagern geschaffen. In Dachau wurde Ende 1939 ein Krematorium, in Buchenwald Anfang 1940 eine Einäscherungsanlage installiert. Systematisch ausgebaut wurde die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz/Birkenau, das sich zum größten Lagerkomplex entwickelte. Auschwitz/Birkenau wurde Anfang 1942 auf der so genannten Wannsee-Konferenz zum Hauptort des Holocaust bestimmt. Die vorhandenen und projektierten Einäscherungskapazitäten boten aus nationalsozialistischer Sicht die Voraussetzungen für ein reibungsloses Funktionieren der Massentötungen. Das erste Krematorium war im August 1940 fertig und von der Erfurter Firma Topf installiert worden, die zuvor an kommunalen Krematorien mitgearbeitet hatte. Ihre vor Ort tätigen Ingenieure entwickelten für die SS-Lagerleitung Hochleistungsöfen mit Massenkapazitäten. Bei den 1943 in Betrieb genommenen vier neuen Krematorien waren - welch zynische Form technischer Perfektionierung - die Gaskammern integriert. Die Opfer der Serientötungen durch Giftgas wurden in den Krematorien eingeäschert.xxxix

In mitleidlos-technokratischer Sprache erläuterte der Auschwitzer Lagerkommandant Rudolf Höß später die Funktion der Krematorien: "Die beiden großen Krematorien I und II wurden im Winter 1942/43 gebaut und im Frühjahr 1943 in Betrieb genommen. Sie haten je fünf 3-Kammer-Öfen und konnten innerhalb 24 Stunden je ca. 2000 Leichen verbrennen. ... Die beiden Krematorien I und II hatten unteriridisch gelegene Auskleide- und Vergasungsräume, die be- und entlüftet werden konnten. Die Leichen wurden durch einen Aufzug nach den oben befindlichen Öfen gebracht ... Die beiden kleineren Öfen sollten nach der Berechnung durch die Bau-Firma Topf Erfurt je 1500 innerhalb 24 Stunden verbrennen können."xl

Es war nicht zuletzt die seit den Anfängen der modernen Feuerbestattung bekannte gesellschaftliche Tabuisierung der Einäscherungsapparates, die diesen als ideales Instrument der Spurenbeseitung erschienen ließ. Was an diesem Ort geschah, ließ sich eher als anderswo verheimlichen, weil die wenigsten gewohnt waren, ihn zu betreten. So wurde das Krematorium, das noch wenige Jahrzehnte zuvor als Fanal des Fortschritts gegolten hatte, unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur zum letzten Glied der geradezu fließbandmäßig organisierten Massenvernichtung. Er passte sich hervorragend ein in die "größtmögliche Geheimhaltung", unter der die systematische Massenvernichtung vollzogen wurde.xli

Wurden die Spuren der Massenvernichtung durch die Einäscherung fast vollständig beseitigt, so sollte damit auch jede Möglickeit zu Trauer und Totengedenken unterbleiben. Die gesellschaftliche Dimension von Gedächtniskultur trat also noch in deren gewaltsamer Zerstörung, in deren Negation zu Tage. Auf diese Weise wollten die Nationalsozialisten auch die jüdische Kultur insgesamt auslöschen - jene jahrhundertealte Kultur, deren Identität sich ja in besonderem Maß der Erinnerung und dem Gedächtnis verdankt.

Es bedurfte jahrzehntelanger Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit, um den Holocaust in Deutschland in das kollektive Gedächtnis eingehen zu lassen. Es schien, als müsse man sich gegen den verbreiteten Wunsch nach dem "Vergessen" in den Jahrzehnten nach dem Holocaust Trauer und Erinnerung mühsam Schritt für Schritt wieder erkämpfen.

Die gesellschaftlich-politische Problematik von Trauer und Erinnerung angesichts des Holocaust zeigte sich schon in der frühen Nachkriegszeit. Dies gilt beispielsweise für das 1949 eingeweihte Mahnmal für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Es befindet sich vor dem dortigen Krematorium und trägt insgesamt 105 Urnen mit Asche und Erde aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Haftanstalten. Initiator dieses Mahnmals war die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN), insbesondere ihr Vorsitzender Franz Heitgres (der nach Kriegsende als Hamburger Senator amtierte). Die Einweihung des Denkmals wurde allerdings von taktischen Scharmützeln überschattet, die ein bezeichnendes Licht auf die politische Instrumentalisierung von Trauer werfen. Die VVN, in der sich auch viele Kommunisten versammelten, war im Zuge des beginnenden "Kalten Krieges" ins politische Abseits geraten. Die von der VVN 1949 vorgeschlagene Zeremonie zur Einweihung wurde vom Hamburger Senat abgelehnt, der ursprünglich anberaumte Termin - nämlich der 8. Mai - vom Senat kurzerhand vorverlegt. So fanden Anfang Mai 1949 nacheinander zwei Einweihungsveranstaltungen statt - eine des Senats am 3. Mai, auf der Hamburgs sozialdemokratischer Bürgermeister Max Brauer sprach, und eine der VVN am 8. Mai 1949.xlii

Nach und nach - mit zunehmender Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen - entstanden vielerorts Gedenkstätten für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Damit wurde dem Versuch, die kollektive Erinnerung an die Toten der Diktatur auszulöschen, etwas Dauerhaftes entgegensetzt. Ein Beispiel ist das "Gräberfeld X" auf dem Alten Stadtfriedhof Tübingen. Es erinnert mit Namenstafeln an jene nationalsozialistischen Opfer, die dem Anatomischen Institut der Tübinger Universität zur Verfügung gestellt und zunächst anonym beigesetzt worden waren: unter anderem hingerichtete Widerstandskämpfer, Deserteure und Zwangsarbeiter.xliii

Ohnehin stellt sich angesichts des Holocaust die Frage nach den generellen Möglichkeiten gesellschaftlicher Erinnerungs- und Trauerarbeit. Trauer scheint zunächst ein psychisches, auf privat-emotionaler Ebene angesiedeltes Phänomen - sicher immer geprägt von spezifischen kulturellen Einflüssen. Gleichwohl meint der Sozialwissenschaftler Moshe Zuckermann, daß die bewußte Verarbeitung des Schmerzes auf der Ebene vernunftgeleiteter Erinnerungsarbeit eine adäquate Form öffentlicher Trauerarbeit ist. Zuckermann führt weiter aus, daß eine politische Aufklärungsarbeit, die dem Barbarischen entgegenwirkt und komplementär zur emotionalen Trauerarbeit geleistet wird, in Deutschland sehr wohl als sinnvolle Dimension öffentlicher Trauerarbeit angesichts des Holocaust begriffen werden kann.xliv

Dass dies auch mehrere Jahrzehnte nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur mehr war als bloße theoretische Überlegung, zeigte sich in den Diskussionen um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas (so genanntes "Holocaust"-Mahnmal), die in Deutschland Ende der 1980er-Jahre einsetzten.xlv Es ging bei diesen Diskussionen Reflexion über kollektive Formen der Trauer "um das genuine Bedürfnis menschlicher Subjekte, sich zu ihrer Vergangenheit und Vorvergangenheit in ein tragfähiges Verhältnis zu setzen." Wie immer die aktuellen Planungen für das Denkmal auch enden - es ist deutlich geworden, dass sich eine neue Form historischer Trauer als Modus des Gedenkens jenseits der konventionellen privaten Trauer eröffnet.xlvi

Kriegstod und Massenvernichtung schufen eine Dimension des Todes, mit der sich auch die Kunst des späten 20. Jahrhunderts auseinandersetzen mußte. Verständlicherweise unternahm sie wenig, den Tod - wie noch zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters - sanft zu umhüllen und zu sublimieren: "Vielmehr betonen die meisten Kunstwerke die grauenhafte, die erhabene oder die fremdartige Seite des Todes, anstatt ihn durch Erotisierung in eine intime Nähe zu rücken. Es dominieren Vernichtungsfantasien, Todeslandschaften oder pseudo-sakrale Kulträume. In den Gewaltfantasien erscheint der Tod als anonyme, furchterregende Macht."xlvii

Dass die künstlerische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, die im 19. Jahrhundert so virulent war, von diesen "Gewaltfantasien" überformt wird, liegt in der Hilflosigkeit begründet, die die Erfahrung des Todes im 20. Jahrhundert kennzeichnet. Millionenfacher Kriegstod und industrialisierte Massenvernichtung lassen den Menschen als stummes, wehrloses Opfer erscheinen. Die künstlerische Fantasien, die sich dieses Gegenstandes bemächtigen, können kaum mehr sein als ein Versuch der "Domestizierung des Unfasslichen". Jede Sinngebung und Überhöhung wäre verfehlt: "Der Tod wird nicht legitimiert, sondern fantasievoll bemalt, wie eine nackte Brandmauer in einer Baulücke."xlviii

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