2. Kapitel 1: Verlagerung der Toten: Vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit

Im Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit, der vom Reformationszeitalter markiert wird, begannen jene folgenreichen Umbrüche, die die Fundamente für den modernen Umgang mit dem Tod legten. Diese Umbrüche waren vielfältig verknüpft mit den reformatorischen Bewegungen. Waren noch in der altgläubig geprägten Welt des Mittelalters die Bereiche der Lebenden und Toten nicht scharf voneinander geschieden worden, so zog die Reformation hier eine deutlichere Grenze. Im Protestantismus erhielt das diesseitige, weltliche Leben wachsende Bedeutung. Dies zeitigte konkrete Folgen für den Umgang mit den Toten, denn es bahnte beispielsweise den Weg für die Umsetzung hygienischer Forderungen. So wurden im Reformationszeitalter - wie noch zu erläutern sein wird - zahlreiche innerstädtische Kirchhöfe aufgelöst und stattdessen neue Friedhöfe außerhalb der Städte angelegt.

Aber greifen wir nicht vor. Das altgläubige Christentum hatte die Toten zu den Kirchen und damit in das Zentrum der Städte geholt. Sein Glaube ließ es nämlich erstrebenswert erscheinen, in möglichst großer Nähe zum kirchlichen Altar - dem Ort der Reliquien - bestattet zu werden. Kirche und Kirchhof entwickelten sich zum Schauplatz der christlichen Bestattung: Beigesetzt wurde entweder in einer privilegierten Grabstätte im oder direkt am Gotteshaus, zumindest aber auf dem zu diesem Zweck geweihten, am kirchlichen Asylrecht teilhabenden Kirchhof. Der Kirchhof diente aber nicht nur der Bestattung, sondern war Schauplatz des Alltagslebens - hier wurden Märkte abgehalten, öffentliche Versammlungen durchgeführt, hier tanzte man sogar. Der mittelalterliche Kirchhof war ein geradezu "polyfunktionaler" Ort (Martin Illi).i

Das Grab im Gotteshaus selbst - ursprünglich nur Geistlichen zugebilligt - entwickelte sich trotz mehrfacher Verbote zum käuflichen Statussymbol für die weltlichen Oberschichten. Religiöse Elemente vermischten sich mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach öffentlicher Repräsentation. Im Übrigen wurde die Bestattung in und an der Kirche zu einer willkommenen Einnahmequelle für den Klerus.ii

Gleichwohl fanden längst nicht alle Toten auf dem Kirchhof oder in der Kirche ihre letzte Ruhe: Selbstmördern, Hingerichteten, Angehörigen "unehrlicher" Berufe, Andersgläubigen und Ehebrechern wurde dieses Recht verweigert. In Seuchenzeiten dienten überdies besondere Pestfriedhöfe, die aus hygienischen Gründen außerhalb der Siedlungen angelegt wurden, der Bestattung.

Auf Kirchhöfen des südlichen Deutschlands ist bisweilen das so genannte Beinhaus (Karner, Ossarium) erhalten geblieben. Die Beinhäuser dienten der Aufnahme unverwester Skelettteile. Sie waren notwendig, weil auf dem mittelalterlichen Kirchhof die normalen Gräber wegen der beengten räumlichen Verhältnisse nach relativ kurzer Zeit geräumt und neu belegt wurden. Die Beinhäuser ermöglichten die Raum sparende Zweitbestattung von Knochen und Schädel. Das Untergeschoss diente dabei in der Regel als "Knochenkammer", die nur vom Totengräber betreten wurde. Das darüber liegende Geschos war ein kapellenähnlicher, meist mit Apsiden versehener und kultisch-religiösen Zwecken dienender Raum.iii

Vor allem in ländlichen Regionen hat der Kirchhof teilweise über Jahrhunderte hinweg seine Funktion als Ort der Bestattung behalten. Der Schriftsteller Gottfried Keller beschrieb in seinem Roman "Der grüne Heinrich" einen solchen Begräbnisplatz: "Der kleine Gottesacker, welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer weiß geputzte Kirche legt und niemals erweitert worden ist, besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter; es ist unmöglich, dass bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat."iv

Zur altgläubigen Vorstellungswelt gehörte die Möglichkeit, das Seelenheil der Verstorbenen durch entsprechende Dienste seitens der Lebenden zu befördern. Der Tod war also keine eindeutige Grenze, sondern ein allmählicher Übergang zwischen Diesseits und Jenseits mit dem Fegefeuer, das der Reinigung und Läuterung diente. Der Kampf um die Vergebung etwaiger Sünden wurde erst ganz zuletzt entschieden. Dies machte die posthume Erlösung der Verstorbenen durch die Lebenden möglich: durch tätige Fürbitte, Ablasskauf und anderes. Diese Praktiken wurden im späten Mittelalter zunächst von den wohlhabenden Oberschichten, später auch von mittleren Schichten geübt. Hier zeigte sich zugleich die große Bedeutung familiärer Gemeinschaften für Leben und Tod.v

Wie stellte sich nun der altgläubige Umgang mit dem Tod an der Schwelle zur Neuzeit in einer der damals bedeutendsten deutschen Städte, in Nürnberg, konkret dar? Begräbnisliturgie und Totenkult waren aufwändig - was die Obrigkeit übrigens immer wieder einzuschränken suchte. Zu den Requisiten zählten Totenbahre, Leichtücher, Totenkerzen. Auf der Totenbahre lag der Verstorbene ohne Sarg, nur bedeckt von einem prunkvollen Leichtuch. Bei der Prozession wurden der Bahre meist große Kerzen vorangetragen - als Sinnbild des "ewigen Lichtes" erinnerten sie die Lebenden an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Man achtete darauf, die Kerzen bis zum dreißigsten Tag nach dem Tod brennen zu lassen - einige Familien erkauften sich gar ein "Immerlicht". Auch die Feier der Jahrestage des Todes war Element der innerfamiliären Begegnung zwischen Lebenden und Toten. Gebete am Ort des Begräbnisses dienten dem Wohl der Verstorbenen.vi

Die Vorstellung von einer Gegenwart der Toten zeigte sich hier als symbolischer Ausdruck sozialer Verbundenheit über den Tod hinaus. Auch die Lage des Friedhofs inmitten der Besiedlung und seine Nutzung sowohl zu Bestattungs- als auch zu weltlichen Zwecken belegte ja die stete Gegenwart der Toten. Das Totengedenken wurde zu einer gemeinschaftserhaltenden Aktion und war daher für soziale Gruppen wie Familien, Gilden, geistliche Gemeinschaften von großer Bedeutung.

Auch unabhängig von konkreten Sterbefällen war das Leben in der altgläubigen Vorstellungswelt vielfältig mit dem Tod verknüpft. Eigene literarische Gattungen erinnerten an die Vergänglichkeit aller irdischer Existenz. Im "Memento mori" ("Gedenke des Todes") wurde der christliche Mensch ermahnt, das diesseitige, vergängliche Leben nicht zu hoch zu schätzen und das Streben auf die Erfüllung im Jenseits zu richten:
"Nun denket alle - Weib und Mann -
Was aus euch soll werden dann.
Ihr minnet diese Erdenwelt
Und wähnet stets hier zu sein.
Dünkt sie euch noch so minnenswert -
Nur kurze Frist wird euch gewährt:
Lebet ihr noch so gerne manche Zeit -
Ihr müsst verwandeln diesen Leib."vii

Das Memento mori war ein Bestandteil der mittelalterlichen Ars moriendi, die als eigene literarische Gattung der Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit und der Vorbereitung auf den Tod diente sowie Hilfestellungen für ein seliges Sterben bot. Auf antike Vorbilder (Seneca, Plinius) zurückgehend, hatten diese "Sterbebüchlein" sowohl vor der Sünde mahnenden als auch tröstenden Charakter, indem sie auf das ewige Leben nach dem Tod verwiesen. Die Bedeutung der Ars moriendi nahm nach den verheerenden Pestseuchen des Spätmittelalters beträchlich zu.viii

Auch in bildlichen Werken wie Holzschnitten und Kupferstichen fand das Memento mori seinen Ausdruck. Bekanntestes Beispiel ist die Gattung der Totentänze. Diese von Versen unterlegten Bilderzyklen erschienen unter anderem auf Kirchenwänden und in den so genannten Blockbüchern. Die Totentänze zeigen, wie der Tod unwiderruflich kommt und den Sterbenden abholt - alles Flehen um Aufschub bleibt vergeblich. Grundmotiv war auch hier die Vergänglichkeit. In den Totentänzen wurden auch sozialkritische Sichtweisen deutlich: Vom gleichmachenden, in der Gestalt des Totengerippes (Skeletts) erscheinenden Todes sind Papst und Kaiser ebenso betroffen wie Landmann und Bettler. Damit wird die scheinbar unverrückbare Hierarchie der spätmitteltalterlichen Gesellschaft infrage gestellt: "Tod:
Herr Kaiser mit dem grauen Bart,
Eure Reue habt Ihr zu lang hinausgeschoben.
Drum sperrt euch nicht, Ihr müsst davon
und tanzen nach meiner Pfeife Ton.

Kaiser:
Ich konnte das Reich wohl mehren,
mit Krieg und Kampf dem Unrecht wehren;
Nun hat der Tod mich überwunden,
dass einem Kaiser ich kaum mehr gleiche."ix

Beim Memento mori und den Totentänzen spielte der einzelne Künstler keine entscheidende Rolle - stattdessen stand die Gattung als solche im Vordergrund. Erst im Übergang zur Neuzeit kam es zu eigenständigen künstlerischen Ausdrucksformen, wenn der Tod thematisiert wurde - etwa in Hans Holbein d.J. berühmter, 1526 entstandener Totentanz-Folge und in der humanistischen Kunst Albrecht Dürers.

Die Geschlossenheit der altgläubigen Vorstellungswelt wurde durch Reformation und Protestantismus im frühen 16. Jahrhundert aufgelöst. Allein die Tatsache, dass der Protestantismus dem alten Glauben alternative Deutungen entgegensetzte, bedeutete das Ende einer universellen Sinndeutung und Praxis. Die reformatorische Epoche brachte wesentliche Merkmale eines Umgangs mit dem Tod hervor, der sich als "modern" kennzeichnen lässt. Die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten veränderten sich. Im Protestantismus wurde das Heil der Verstorbenen allein Gott überantwortet. Da das Fegefeuer verworfen wurde, verlor die tätige Fürbitte der Lebenden für die Verstorbenen ihre Bedeutung. In der protestantischen Leichenpredigt wurden, wie wir noch sehen werden, die Hinterbliebenen zum Adressaten.

Generell eröffnete die Auflösung bisheriger Glaubensmuster den Weg zu einer dem Diesseits zugewandten, "privaten" Trauerkultur. Erinnerung und Gedächtnis spielten nun eine größere Rolle als der Versuch, die Verstorbenen im Nachhinein auf ihrem Weg ins Jenseits zu unterstützen. Dies mündete in eine "Individualisierung des Todes", die parallel lief zu jener allgemeinen historisch-gesellschaftlichen Entwicklung, die Richard van Dülmen als "Entdeckung des Individuums" bezeichnete.x

Die Zäsur im Umgang mit dem Tod, die der Protestantismus setzte, war in der Friedhofs- und Grabmalkultur für alle sichtbar. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts erfolgte erstmals eine Welle von Friedhofsverlegungen: Die traditionellen Bestattungsorte Kirche und Kirchhof wurden ersetzt durch Begräbnisplätze, die man weitab der Gotteshäuser vor den Toren der Städte anlegte. Die Reformatoren verneinten jene zuvor gültige Auffassung, die einen Zusammenhang zwischen der Bestattung nahe des Altars und dem Seelenheil der Verstorbenen hergestellt hatte. Die Ablehnung der Reliquienverehrung, der Fürbitte für die Toten und der Rolle der Heiligen als Mittler für das Seelenheil veränderte den Kontext für die Bestattungspraxis. Nicht mehr die Toten standen künftig im Mittelpunkt, sondern die Hinterbliebenen, denen der Friedhof ein Ort des Trostes, der Selbstbefragung und der Einkehr sein sollte.

Dabei widmete sich Martin Luther selbst in seinen Texten dem Friedhofsproblem. Er sprach sich für die Verlegung der Begräbnisplätze aus und verwies dabei auf das Hygieneproblem bei innerstädtischen Bestattungen. Zugleich betonte er, dass ein Friedhof vor der Stadt eher andächtige Ruhe bieten könne als die vielerlei Zwecken dienenden Kirchhöfe im Zentrum. Der Reformator schrieb 1527 wörtlich: "Denn ein begrebnis solt ja bilich ein feiner stiller ort sein, der abgesondert were von allen oertern, darauff man mit andacht gehen und stehen kuendte, den tod, das Juengst gericht und aufferstehung zu betrachten und beten." xi

Da sich frühmoderne hygienische Forderungen mit der reformatorischen Erneuerung verbanden, wurde die Anlage regulärer Begräbnisplätze vor den Toren der Städte befördert (Pestfriedhofe waren, wie gesagt, schon zuvor abseits der Siedlungen eingerichtet worden). In einzelnen Städten hatte sich bereits vor der Reformation ein im Ansatz rationales Bewusstsein für hygienische Probleme entfaltet. Im Übrigen bot die Friedhofsverlegung der städtischen Obrigkeit auch ein Mittel, um den ausufernden kirchlichen Begräbniskult einzuschränken. Unter diesen Aspekten war das Ende der traditionellen Kirchhofsbestattung sozusagen vorbereitet, bevor ihr die reformatorische Erneuerung dann endgültig den Weg bahnte.xii

So kam es im 16. Jahrhundert zu einer regelrechten Welle von Friedhofsverlegungen. Religiöse Reformen und Forderungen städtischer Gesundheitspolitik fanden - gegen den Widerstand altgläubiger Eliten - zu einer regelrechten Symbiose. Dies zeigt etwa das Beispiel Leipzig und sein neuer, vor den Stadttoren angelegte Friedhof St. Johannis. Initiiert und gefördert wurde die Verlegung hier durch reformorientierte Ratsmänner und fürstliche Räte - gegen den Widerstand des Klerus. Der Landesherr Georg von Sachsen hatte sich die hygienischen Argumente zu Eigen gemacht und verbot in der Begräbnisordnung von 1536 alle innerstädtischen Bestattungen in Leipzig. Der lutherisch eingestellte Leipziger Stadtrat sah die eigentlich gesundheitspolitisch motivierte Verlegung auch als Vehikel für seine reformatorischen Ziele. Er vertraute dabei auf die verbreitete antiklerikale Stimmungen ebenso wie auf die Furcht vor weiteren Seuchen.xiii

Ein berühmtes, bis heute erhaltenes Beispiel für außerstädtische Friedhofsanlagen des 16. Jahrhunderts ist der 1557 begonnene (und 1594 fertig gestellte) Stadtgottesacker in Halle/Saale. Er ist zugleich Beispiel für das Gestaltungsprinzip des "Camposanto" mit seinen umlaufenden, den Begräbnisplatz begrenzenden Arkaden. Der Verlust des bisherigen Bezugspunktes, nämlich der Kirche, erforderte ja eine Neustrukturierung des Friedhofsraumes. In Halle wurden die umlaufenden Arkaden zum "Mittelpunkt". Sie dienten dem reformatorischen Bürgertum, das erfolgreich gegen die altgläubige Herrschaft aufbegehrt hatte, als repräsentativer, das neu gewonnene politische Selbstbewusstsein untermauernder Bestattungsort. Diese Arkaden waren reich verziert - die Bandbreite reicht von Arabesken über Blattwerk und Tiere bis zu bänderförmiger Ornamentik. Hinter ihren langgestreckten Bögen befanden sich Grabnischen, die den aufwändigen Grabdenkmälern Schutz boten. Durch kunstvoll geschmiedete Gitter wurden sie zusätzlich gesichert. So zeigt der Stadtgottesacker von Halle, wie sehr die Friedhofsarchitektur Ausdruck der sozialen Veränderungen im 16. Jahrhundert war. Hier entstand ein neuartiger Raum, auf dem sowohl Trauer entfaltet als auch der Nachwelt gesellschaftliches Prestige demonstriert werden konnte.xiv

Das bereits erwähnte Nürnberg zählte zu jenen Städten, in denen das Hygieneproblem bereits vor Einführung der Reformation Wirkung gezeigt hatte. Als Vorbild für eine prophylaktische Gesundheitspolitik dienten oberitalienische Städte wie Venedig, mit denen die fränkische Reichsstadt in regelmäßigen Handelsbeziehungen stand. Der Nürnberger Rat verfügte 1520 die vollkommene Einstellung der innerstädtischen Bestattungen. Allerdings konnten bestehende Familien- und Erbbegräbnisse in den Kirchen nicht ohne weiteres aufgelöst werden und wurden auch künftig genutzt. So richtete der Rat seine Anstrengungen darauf, die Anlage neuer Erbbegräbnisse in den Gotteshäusern zu verhindern.xv

Die nun zu regulären Begräbnisplätzen erklärten neuen außerstädtischen Friedhöfe St. Johannis und St. Rochus wurden in der Folgezeit ebenfalls zu Schauplätzen einer neuartigen Sepulkralkultur. Die Grabsteine - in ihrer Grundform einheitlich große, liegende Sandsteinquader - wurden vor allem durch die auf ihnen angebrachten Bronzetafeln zu einem berühmten, bis heute erhaltenen Beispiel frühneuzeitlicher Grabmalkultur. Sie spiegelten Reichtum und soziales Prestige des städtischen Patriziats und Zunfthandwerks wider. Zeigten die frühen Tafeln ab 1520 noch schlichte viereckige Inschriften- und Wappentafeln, so kamen im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts Medaillon-, Drei- oder Vierpassformen hinzu. Im Zeitalter des Barock folgten aufwändigere Darstellungen mit reicher Ornamentik.xvi

Neben religiöser, geneaologischer und berufsständischer Symbolik fanden auf den Grabsteinen auch individuell geprägte Gefühle der Trauer ihren Niederschlag: etwa durch die gemeinsame Darstellung eines Ehepaares oder den versinnbildlichten Schmerz beim Verlust des Partners. Besonders deutlich wurde die emotionale Bindung, wenn sämtliche Familienangehörigen auf den Grabmälern gezeigt und die bereits verstorbenen Kinder durch ein Kreuz markiert wurden.xvii Auch die Inschriften veränderten sich, spätestens ab Mitte des 16. Jahrhunderts wurden sie komplexer und ausführlicher. So fanden jene Ansätze einer neuen Emotionalität im Umgang mit Tod und Trauer, die im 16. Jahrhundert aufkamen, auf den neuen außerstädtischen Friedhöfen ihren gesellschaftlich vermittelten, gleichsam öffentlichen Ausdruck.

Mit der topografischen Verlagerung änderte sich auch die gesellschaftliche Rolle der städtischen Begräbnisplätze. Nicht nur wurde die räumliche Einheit von Kirche, Grabstätte und Trauer aufgelöst - die neuen außerstädtischen Friedhöfe besaßen auch nicht mehr die polyfunktionale Rolle der alten Kirchhöfe. Stattdessen entwickelten sie sich zu spezifischen Orten des Todes, auf denen neue ästhetische Ausdrucksformen entfaltet werden konnten.

Natürlich: Diese außerstädtischen Friedhöfe waren bei den wohlhabenden städtischen Familien, die das traditionelle Kirchengrab gewohnt waren, zunächst nicht immer beliebt. Mit der Zeit jedoch wurden sie - nicht zuletzt dank einer entsprechenden Ratspolitik - akzeptiert und entsprechend ausgestaltet. Die einst diskriminierende Bestattung "im Felde" erhielt ihre gesellschaftlichen Weihen. So bedeuteten die Friedhofsverlegungen keineswegs eine Marginalisierung der Toten. Nur auf den ersten Blick schienen die Toten, die zuvor inmitten der Städte ihren Platz gefunden hatten, zu Ausgegrenzten und Außenseitern geworden zu sein. Allerdings muß zugleich vermerkt werden, dass es sich bei den genannten Friedhofsanlagen um einzelne, herausragende Beispiele neuer Formen der Sepulkralkultur handelte. Die meisten der seit dem 16. Jahrhundert neu errichteten Gottesäcker konnten da nicht mithalten. Mit ihren planlos-verstreuten Gräbern mangelte es ihnen in der Regel an Ordnung - häufig wirkten sie regelrecht verwahrlost (ein Problem, das im folgenden Kapitel noch ausführlicher behandeln wird).

Aus der Reformationszeit sind im Übrigen auch erste staatliche Direktiven im bis dahin kirchlichen Friedhofsrecht bekannt. Sie sollten das "ehrliche" Begräbnis für jedermann gewährleisten. Eine Lockerung der streng konfessionellen Orientierung brachte dann der Westfälische Friede von 1648. Dort hieß es, dass sich die drei Konfessionen des Augsburger Bekenntnisses wechselseitig die Beerdigung von Angehörigen der jeweils anderen Glaubensrichtung auf dem eigenen Friedhof zugestehen mussten. Dies galt dann, wenn am Ort kein Friedhof des Bekenntnisses, dem der Verstorbene angehörte, vorhanden war.xviii

Ansonsten blieb der Tod in der Gesellschaft der frühen Neuzeit ein vertrautes Element alltäglichen Lebens. Pest, Hunger und Kriege sowie die hohe Sterblichkeitsrate, insbesondere bei Säuglingen und Kindern, machten ihn zu einem steten Begleiter. Dennoch waren die Menschen angesichts des massenhaften Todes, der gerade in Kriegszeiten nahe war, nicht unberührt. Dies wird durch Soldatenbriefe aus dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) dokumentiert: "Viele hundert Körper lagen halbverbrannt im Feuer, und die Menschlichkeit konnte nicht anders als bei diesem kläglichen Spektakel mit Erstaunen zittern." Auch in Liedern kamen bisweilen die Schrecken des Todes zum Vorschein: "Die Trommel röhret sich,
Ihr Klang ist fürchterlich.
Man sieht fast keinen Boden
Vor Sterbenden und Toten.
Hier liegt ein Fuß, ein Arm,
O dass es Gott erbarm."xix


Wie entwickelten sich die konfessionell unterschiedlichen Formen von Bestattungskultur und Totengedächtnis in der frühen Neuzeit? Für den protestantischen Nordwesten Deutschlands hat Heike Düselder in einer Studie folgenden idealtpyischen Ablauf beschrieben: "Die Familie und Nachbarn tragen bzw. begleiten seinen Leichnam zum Kirchhof, Schüler gehen dem Leichenzug unter Gesang voran, ihre Anzahl hängt vom sozialen Status des Verstorbenen ab ebenso wie das Glockengeläut bzw. dessen Länge und Lautstärke, die den Grad des öffentlichen Interesses an diesem Sterbefall bekundet. Seine Grabstelle auf dem Kirchhof ist nicht willkürlich gewählt, sondern er hat sie schon lange besessen, geerbt also, oder selbst erworben. ... Im Zentrum seines christlichen Begräbnisses steht dann die Predigt. Die Trauergemeinde versammelt sich in der Kirche, um von dem Pastor Worte des Trostes, der Ermahnung zu einem christlichen Leben und der Bewusstmachung der eigenen Sterblichkeit zu vernehmen, um mit erbaulichen Worten, mit Gebeten und Gesang ihre Trauer zu bewältigen. Im Anschluss an die eigentliche Predigt berichtet der Pastor vom Leben und Sterben des Toten, geht dabei nach einem festen Schema vor, benutzt die Gelegenheit zur Verkündigung christlicher bzw. kirchlicher Normen und Verhaltensweisen und setzt diese in Beziehung zu der konkreten Person des Verstorbenen. Nach der kirchlichen Begräbnisfeier begibt man sich ins Trauerhaus, versucht nunmehr der Trauer mit weltlichen Mitteln zu begegnen, gibt sich in mehr oder weniger exzessiver Weise dem so genannten ‚Tröstelbier‘ hin."xx

Wie eingangs bereits angedeutet, wurde im Protestantismus die gedruckte Leichenpredigt zu einem zentralen Element frühneuzeitlicher Trauerkultur. Zugleich bildet sie einen wichtigen Beleg für die bereits erwähnten Individualisierungstendenzen, denn sie bezogen sich jeweils auf das persönliche Leben des Verstorbenen. Sie waren an einen gewissen Bildungsstand gekoppelt und trugen dazu bei, das aufkommende Bewusstsein einer spezifisch bürgerlichen Lebensweise zu demonstrieren (in dem christliche Orientierungsmuster gleichwohl noch eine bedeutsame Rolle spielten). Die Leichenpredigten dokumentieren den Übergang von einer intensiven Einbindung in das Kirchenleben hin zu einer zunehmenden Distanz gegenüber kirchlichen Institutionen und Ritualen. Im 18. Jahrhundert wurden sie zum Instrument gesellschaftlicher Selbstdarstellung einer sozialen Schicht, die bürgerliche Tugenden wie Gerechtigkeit, Fleiß und Integrität an die oberste Stelle hob, wenngleich Glaube und Frömmigkeit grundsätzlich zunächst ihren Platz behielten.xxi

Was die Leichenpredigt für die Trauerfeier, war die Grabinschrift für den Friedhof. In der frühen Neuzeit kamen Grabsteine mit ausführlichen Inschriften auf, die das Leben der Verstorbenen würdigten. Dies gilt nicht nur für städtische Begräbnisplätze. Die Zeiten überdauert haben solche Grabsteine gerade auf Friedhöfen, die abseits der städtischen Zentren liegen. Ein Beispiel sind die nordfriesischen Inseln Amrum und Föhr. Die Grabsteine der dortigen Kirchhöfe berichten in kunstvoll verschnörkelter Darstellung vom Leben jener Seefahrer, die auf Walfang gegangen waren oder auf Handelsschiffen ihren Unterhalt verdient hatten und damit zu Wohlstand gekommen waren. Typisch ist beispielsweise folgende Inschrift für einen 1706 verstorbenen Föhrer Walfänger: " ... Der Schifffahrt nach Grönland / höchst kundig, wo / er mit unglaublichem Erfolg / 373 Walfische /gefangen hat. Sodass er von daher nach Aller / Urteil den Namen / des Glücklichen / erlangt hat. /"xxii Berühmt wurde der Grabstein von Harck Olufs auf Amrum, der von einem abenteuerlichem Leben, teilweise in türkischer Gefangenschaft, teilweise als Schiffskommandeur in fernen Gewässern, erzählt: "Als seeliger / Harck Olufs / So daselbst gebohren auf / Amrum. Anno 1708 den 19. July. Bald / darauf in sein Jungen Jahren von den Tür- / kischen See-Räubern zu Algier ist / er Ao. 1724 d. 24. Marty gefangen / genommen worden. In solcher / Gefangen- / schaft aber hat er dem türkischen Bey / zu Constantine ... 11 und ein / virtel Jahr gedinet, bis ihm endlich dieser Bey / Ao. 1735 d. 31. October aus gewogenheit / zu ihm Seine Freyheit geschenket, da er denn / das folgende Jahr darauf als Ao. 1736 / d. 25. April glücklich wieder um alhier auf / Seinem Vaterland / angelanget ist. Und sich also / Ao. 1737 in dem Stande der Heiligen / Ehe begeben mit / Antje Harken. So nun sich / nebst 5 Kindern in den betrübten Wittwenstan- / de befindet. In solcher Ehe haben sie aber / einen Sohn und 4 Töchtern gezeuget. So mit / ihr alle den Tod ihres Vaters füheln / müssen, da er gestorben ist Ao. 1754 d. 13. / October. Uns ein Leben gebracht auf / 46 Jahr und 13 Wochen."xxiii

Auch die Totenfürsorge unterlag besonderen regionalen Traditionen. Neben dem kirchlichen Kontext gab es weitere Formen organisierter Totenfürsorge. Auf dem Land spielten die Nachbarschaften eine zentrale Rolle - stellenweise bis ins 20. Jahrhundert. Städtische Zünfte entwickelten für ihre Mitglieder spezifische Rituale und Symbole, die weit bis ins 19. Jahrhundert hinein Bestattung und Trauer Gestalt verliehen (Traditionslinien, die übrigens später von der Arbeiterbewegung aufgegriffen wurden). Wie die Zünfte, so richteten auch so genannte Sterbekassen Gemeinschaftsgrabstätten ein und prägten damit neue Formen von Bestattung und Totengedenken.xxiv

Innerhalb der katholischen Kirche kümmerten sich die Bruderschaften in besonderer Weise um Sterben, Tod und Trauer. Dabei handelt es sich um Vereinigungen laikaler Katholiken unter geistlicher Führung, die Krankenfürsorge, Trauerbegleitung und Totengedenken praktizierten. Sie halfen bei der Vorbereitung auf einen "guten Tod", begleiteten beim Sterben und standen den Verstorbenen durch Gedenken und Sorge ums Seelenheil bei. Die Mittel waren Gebete und Gottesdienste, Wallfahrten und Prozessionen, Betreuung von Kranken und Sterbenden sowie Seelenmessen. Die Bruderschaften waren in katholischen Regionen bis weit in die Neuzeit hinein ein religiös-gesellschaftliches Massenphänomen - es gab sie in fast allen Orten, und nahezu alle Einwohner zählten zu ihren Mitgliedern. Hatte ursprünglich das Totengedenken im Vordergrund gestanden, so rückte seit dem Spätmittelalter zunehmend die Sorge um einen "guten Tod" in den Mittelpunkt. Totenmemoria und "glückselige Sterbestunde" waren nun von gleichem Gewicht. Erst im Zuge des allgemeinen Säkularisierungsprozesses während des 19. Jahrhunderts verloren die Bruderschaften ihre religiöse und gesellschaftliche Bedeutung.xxv

Überhaupt zeigten sich die katholischen Bestattungszeremonien in der frühen Neuzeit wesentlich aufwändiger als die protestantischen. Sterbesakramente, Versehgänge, das Herrichten der Toten, Aufbahrung, Aussegnung und Leichenzug waren Elemente einer vielfältigen, in die örtlichen Lebenszusammenhänge eingebundenen Bestattungs- und Trauerkultur. Sie erhielt sich in ihren Grundzügen häufig über Jahrhunderte hinweg. Fühlte ein Sterbender seine letzte Stunde nahen, so wurde nach dem Pfarrer gerufen. Dieser begab sich dann auf den so genannten Versehgang, der unterschiedlich ausgestaltet wurde - auf dem Land beispielsweise erlaubten die manchmal weiten Wege keine große Begleitung. In Oberbayern standen für diese Versehgänge Pferde bereit, im Übrigen begleitete nur der Messner mit Laterne und Glöckchen - und bisweilen noch ein Chorknabe - den Pfarrer. Nach dem Tod wurden die Kirchenglocken geläutet. Das Sterbegeläute kündete nicht nur vom Dahinscheiden, sondern rief zum fürbittenden Gebet. Das Herrichten der Toten - Waschen, Kämmen, Rasieren, Ankleiden - wurde als Nachbarschaftsdienst geleistet. So genannte Seelnonnen (Totenfrauen) kümmerten sich um die Bestattung. Das Sterbehemd war manchmal schwarz, manchmal weiß, je nach örtlicher Tradition. In vornehmeren städtischen Kreisen bevorzugte man speziell zu diesem Zweck hergestellte Gewänder. Bei der häuslichen Aufbahrung lag der Tote auf einem Brett inmitten brennender Kerzen und einem Kruzifix. Die Kondolierenden besprengten den Toten mit bereit stehendem Weihwasser. Totenwachen wurden gehalten. Die katholischen Bestattungszeremonien wurden abgeschlossen von der Aussegnung, die im eigenen Haus stattfand (in späteren Zeiten dann in der Leichenhalle). Zum Transport der Verstorbenen dienten traditionell Totenbretter bzw. -bahren. Musik und Gesang untermalten bisweilen den Abschied am Grab, der durch das Hinabwerfen von Erde auf den Sarg besiegelt wurde. Grabbeigaben waren nichts Ungewöhnliches. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war es bei Katholiken üblich, Seelenmessen für die Verstorbenen zu bestellen. Dieses Totengedenken fand meist am siebten und dreißigsten Tag nach dem Tod und an den Jahrestagen statt. Zu Allerseelen, dem Fest allgemeinen Totengedenkens, wurde das Grab besonders geschmückt.xxvi

Im Verlauf der frühen Neuzeit versuchte der Staat immer stärkeren Einfluß zu nehmen. Seit der Zeit um 1700 griff er zunehmend als Kontroll- und Aufsichtsinstanz in das Bestattungswesen ein. Die wachsende Zahl obrigkeitlicher Verordnungen zeugt auch hier vom schwindenden Einfluss der Kirche. Mit dem frühmodernen Ausbau staatlicher Verwaltung erfolgte der Zugriff auf weite Bereiche von Alltag und Gesellschaft, des öffentlichen und privaten Lebens. In diesem Zuge wurden auch Bestattung und Trauer immer stärker reglementiert und kontrolliert.

Diese Entwicklung verschärfte sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts und betraf auch ländliche Regionen. Dies zeigt folgende Verordnung von 1769 aus dem Elbe-Weser-Raum - zugleich sagt sie etwas darüber aus, wie weit die Kontrollmaßnahmen reichten: "Da in hiesigen Landen fast alljährlich die rothe und weisse Ruhr sich äußert, deren Verbreitung aber außer den sonst verordneten Vorkehrungen auch dadurch, zufolgte bestätigter Erfahrung, sehr verhütet wird, dass die öffentliche oder feyerliche Beerdigung der an dieser Krankheit versterbenden eingestellet bleibet, so wird hiermit verordnet und festgesetzet, dass künftig durchgängig, so bald irgendwo benennte ansteckende Krankheit ausbricht, die Leichen der an solcher verstorbenen Patienen ohne öffentliches Leichenbegängnis und Gefolge zur Erde bestattet werden sollen, in Sonderheit aber auf dem Lande, wenn die Leiche zu Wagen fortzubringen nicht gestattet werden soll, dass sich jemand mit auf den Leichen-Wagen setzet, wie zu anderen Zeiten gebräuchlich; und dass nicht mehrere Manns-Personen als unumgänglich nöthig sind, die Leiche auf und von den Wagen zu bringen, und in die Gruft zu senken, dabey zuzulassen, welche sämtlich aus gesunden Häusern zu nehmen. Wie sich hiernach ein jeder, um seines und der seinigen eigenen Bestens willen, von selbst zu achten; so werden die Beamte und Obrigkeiten, nicht weniger als die Superintendenten, Pröbste und Prediger angewiesen werden, über die Beobachtung dieser Vorschrift möglichst zu wachen ..."xxvii

Allerdings war die Umsetzung dieser Verordnungen nicht einfach, denn sie griffen in Traditionen ein, die sich über Jahrhunderte ausgeprägt hatten. Das Beharrungsvermögen lokaler Traditionen war beträchtlich, die Durchsetzung der Verordnungen häufig von Konflikten begleitet. Vor allem in Krisenzeiten, die von einer anwachsenden Sterblichkeit gekennzeichnet waren, erfolgte nicht selten ein Rückgriff auf religiöse Deutungen und traditionelle Verhaltensmuster. Insgesamt ließ sich die Bevölkerung häufig nur wenig von den obrigkeitlichen Vorgaben beeinflussen, sondern folgte den eingeübten Traditionen, die sich am sozialen Status, am wirtschaftlichen Potenzial, aber auch an persönlichen oder lokalen, im Kirchspiel tradierten Bedürfnissen orientierten. Als Beispiel sei das hartnäckige Beharren auf dem aufwändigen und kostspieligen Totenmahl im Anschluss an das kirchliche Begräbnis genannt.xxviii

So standen viele der geschilderten Traditionen im Widerspruch zur aufgeklärten Moderne, die unter den Zeichen von Effizienz, Rationalität und Ökonomie stand. Werfen wir vorweg einen Blick über die frühe Neuzeit hinaus: Mit der Kommunalisierung des Bestattungswesens - im reformfreudigen München beispielsweise mit der städtischen Leichenanstalt 1819 vollzogen - verschaffte sich auch in diesem Bereich die moderne Bürokratie Einlass. Dies zeigt beispielsweise die "Instruktion für den Dienst der Seelnonnen" vom 20. November 1821, in der es hieß: "Sobald die Seelnonne zu einem Verstorbenen gerufen wird, muss sie unverzüglich den Distrikts Arzt herbeirufen und diesem die Straße, Hausnummer und Etage des Verstorbenen genau angeben; der Arzt muss die Besichtigung des Leichnams vornehmen. Der Leichnam darf nicht ohne Totenbeschau aus der Lagestatt entfernt werden und an ihm keine Veränderungen vorgenommen werden." Städtische Leichenkutschen kamen ab 1829 zum Einsatz. Die Seelnonnen wurden in München 1862 zu städtischen Leichenfrauen, das Herrichten der Toten zu einer, um es modern auszudrücken, kommunalen Dienstleistung (bevor sich private Bestattungsunternehmen dieser Aufgabe annahmen).xxix

Im Übrigen machte es die wachsende Entfernung der Toten von den Lebenden notwendig, die herkömmlichen Formen des Leichentransportes (Tragen, Bahren) abzulösen. Der Sarg entwickelte sich seit der frühen Neuzeit zu einem bedeutenden Element sepulkraler Prachtentfaltung. Ärmere Schichten allerdings mussten weiterhin mit Bahrtüchern, Totenbrettern oder wiederverwendbaren Särgen vorlieb nehmen.xxx

Unabhängig von der Konfession wurde in den Städten weiterhin der öffentliche Raum zur Demonstration gesellschaftlichen Prestiges genutzt. Dies zeigte sich vor allem in den öffentlichen Leichenbegängnissen. In der Art und Weise der Teilnahme am Begräbnis äußerte sich der jeweilige soziale Rang. Dabei wurden die aufwändigen adligen Begräbnisse - als Symbol von "Prunk und Pomp fürstlicher Leichenzüge" galt der prachtvoll ausgestaltete Leichenwagen - zunächst zum Vorbild für städtisch-bürgerliche Oberschichten. Beispielsweise stellten die Hamburger Leichenbegängnisse des 18. Jahrhunderts ein bedeutendes Ereignis im gesellschaftlichen Leben der Hansestadt dar.xxxi

Allerdings blieben Pomp und Prunk dieser öffentlich-repräsentativen Leichenbegängnisse im aufgeklärten 18. Jahrhundert nicht ohne Kritik. In einer Art Gegenbewegung wurde es in bürgerlichen Kreisen üblich, sich nachts und "still" beerdigen zu lassen. Noch Friedrich Schiller wurde 1805 in Weimar des Nachts und ohne großen Aufwand beigesetzt (üblicherweise wurden die Särge in Weimar von Vertretern der Handwerkszünfte zum Friedhof getragen, bei Schiller waren es immerhin städtische Honoratioren). Aber Schillers Tod markierte hier eine neuerliche Wende, denn die gebildete Öffentlichkeit empörte sich über diese "heimliche" Bestattung - die Vorstellungen über ein angemessenes Begräbnis hatten sich gewandelt. Das bürgerliche 19. Jahrhundert mit seinen symbolträchtigen Formen der Trauerkultur hielt Einzug. Der Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer klagte Jahrzehnte später in einem Gedicht über die Art und Weise, wie Schiller zu Grabe getragen wurde: "Ein ärmlich düster brennend Fackelpaar, das Sturm / Und Regen jeden Augenblick zu löschen droht. / Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg / Mit keinem Kranz, dem kargsten nicht, und kein Geleit! / Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab."xxxii Aber damit sind wir eigentlich schon beim Thema des folgenden Kapitels ...

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