1. Einleitung

"Hatte man die Schwelle des Friedhofs überschritten ... konnte die Ewigkeit nicht länger eine Illusion bleiben ... Die Zukunft mochte, soviel sie wollte, die Welt auf den Kopf stellen; aber dort, in dem engen Bezirk, der den toten Angehörigen geweiht war - dort, inmitten der Gräber, in die man zusammen mit den Toten alles hinabtrug, was das Leben schön und lebenswert machte -, in diesem geschützten, abgeschirmten Winkel der Welt ... würde sich nie etwas ändern."i Wie hier in Giorgio Bassanis Roman "Die Gärten der Finzi-Contini" zwischen den Gräbern die wehmütige Erinnerung an die einstige Jugendliebe wachgerufen wird, so sind es auch sonst immer wieder Friedhöfe gewesen, an denen Trauer und Gedächtnis ihren Zeiten überdauernden Ort zu finden schienen.

Aber dieser Schein trügt. Heute wirken die manchmal jahrhundertealten Grabsteine seltsam anachronistisch in einer Gesellschaft, die immer mehr auf Beschleunigung und auf die Zerstörung von Erinnerung und Gedächtnis setzt. Die weiten Rasenflächen der anonymen Urnenhaine bilden keine Orte individueller Erinnerung mehr. Der Sozialhistoriker Eric J. Hobsbawm schrieb: "Die Zerstörung der Vergangenheit, oder vielmehr jenes sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft, ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomen des späten 20. Jahrhunderts."ii Vielleicht werden künftig melancholische Rückblenden wie in Giorgio Bassanis Roman nicht mehr möglich sein, weil die "Bindungskraft erinnerungsträchtiger Orte" (Aleida Assmann)iii verloren gegangen ist. Die monumentalen Grabdenkmäler früherer Zeiten drohen zu verfallen. Sie zeigen sich mittlerweile als sepulkrale Ruinen und werden beiseite geräumt - oder musealisiert. Die "Exterritorialisierung moderner Gesellschaften" (Helmut Willke)iv umfasst auch den Tod.

Noch aber finden wir in den alten Friedhofsanlagen, Grabmälern und Sepulkralbauten einen gleichsam materialisierten, die Epochen überdauernden Ausdruck des Umgangs mit dem Tod. Vielleicht ist es gerade die drohende Verflüchtigung der Gedächtniskultur, die den historischen Friedhöfen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihre Faszination verleiht. In ihnen werden, zuweilen auf engstem Raum, die gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse unterschiedlicher Zeiten sichtbar.

Im vorliegenden Buch geht es um die strukturellen Entwicklungslinien im Umgang mit dem Tod in Deutschland seit dem Reformationszeitalter, das den Beginn der Neuzeit markiert. Diese Entwicklungslinien werden anhand der historischen Orte des Todes untersucht: Friedhofsanlagen, Grabmäler, Leichenhallen, Krematorien und anderes. Wie der Wandel der Bestattungs- und Trauerzeremonien sind sie eingebunden in gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen und zeugen von den unterschiedlichen Gefühlen und Einstellungen gegenüber dem Tod. Darüber hinaus werden immer wieder Literatur und Kunst als Quellen befragt, denn auch sie berichten von Tod, Trauer und Erinnerung (die jüdische Kultur allerdings muss hier unberücksichtigt bleiben, ihr gebührte ein eigenes Werk).

Die Geschichte des Umgangs mit dem Tod in der Neuzeit ist die Geschichte seiner Entzauberung. Sie lässt sich mit Stichwörtern wie "Individualisierung", "Säkularisierung", "Technisierung" und "Professionalisierung" charakterisieren. Diese Entwicklung vollzog sich vor allem in den Städten, der ländliche Raum dagegen blieb häufig und lange Zeit von besonderen regionalen und konfessionellen Traditionen geprägt.

Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit veränderte zunächst der aufkommende Protestantismus die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten. Erstmals wurde der traditionelle Kirchhof - der Begräbnisplatz um das Gotteshaus - aufgegeben und Friedhöfe vor den Toren der Städte angelegt. Frühneuzeitliche Leichenpredigten und Grabinschriften würdigten das diesseitige, weltliche Leben des Individuums. Im Zeitalter der Aufklärung siegte dann der Hygienediskurs über kirchliche Traditionen. Es wurde der Versuch unternommen, im Umgang mit dem Tod ein spezifisch bürgerliches, an Hygiene, Ordnung und Effizienz orientiertes Vernunftdenken durchzusetzen. Die ersten Leichenhallen entstanden. Zugleich war es die Zeit, in der man in der bürgerlichen Öffentlichkeit über den Freitod diskutierte, die Zeit, als der tote Körper immer mehr ins Blickfeld wissenschaftlich-anatomischer Interessen rückte.

Im bürgerlichen 19. Jahrhundert entwickelten sich die Friedhöfe zu repräsentativen Stätten der städtischen Gesellschaft. Unter zunehmender gartenkünstlerischer Ausgestaltung gerieten sie zur Kulisse des bürgerlichen Grabmalkults. Berühmte Maler wie Caspar David Friedrich hielten die eigenartige Atmosphäre von Friedhöfen und Grabmälern fest - wie der Tod überhaupt zu einem Fluchtpunkt der Romantik wurde. Vernunft und Gefühl gingen eine spannungsreiche Beziehung ein. In der Zeit des deutschen Kaiserreiches wurden Park- und Waldfriedhöfe zu Gesamtkunstwerken mit ausgesprochen weltflüchtiger Ästhetik modelliert.

Unterschwellig jedoch schritt die Entzauberung des Todes rasch voran. Krematoriumsbauten und die Einführung der modernen Feuerbestattung bahnten ihr im späten 19. Jahrhundert, im Zeitalter der Industrialisierung, endgültig den Weg. Eine zunächst kleine Minderheit innerhalb des Bürgertums - säkularisiert, fortschrittsgläubig, gesellschaftlich engagiert - setzte sich gegen den Widerstand der Kirchen für den Bau von Krematorien ein. Diese Technisierung markierte die bedeutendste Zäsur im Umgang mit dem Tod der letzten Jahrhunderte. Der eigentlich technische Kern der Krematorien aber wurde in immer wieder neuen Varianten architektonisch verhüllt und ist bis heute ein gesellschaftlich tabuisierter Ort geblieben. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Bestattungsunternehmen machten aus dem Tod ein privatwirtschaftliches Dienstleistungsgeschäft.

Das 20. Jahrhundert sah den millionenfachen Kriegstod und die systematische Massenvernichtung. Die Technisierung des Todes fand in den Krematorien der nationalsozialistischen Konzentrationslager ihren zynisch-perfektionierten Höhepunkt. Angesichts des massenhaften Leides musste sich Trauer ihre neue Sprache erst noch suchen. In der zeitgenössischen Kunst wurde der Tod bezeichnenderweise als "nackte Brandmauer in einer Baulücke" betrachtet.v

Wo auch immer die Entwicklung hinführen wird - es scheint, als würden die bisherigen Schauplätze von Tod, Trauer und Erinnerung ihre Bedeutung künftig verlieren. Das anonyme Rasengrab einerseits, die digitalen Gedenkseiten im Internet andererseits sind zum sepulkralen Ausdruck der postindustriell-mobilen Gesellschaft geworden. Neue Orte der Trauer entstehen, die abseits der bisherigen liegen - auch die kleinen, blumengeschmückten Holzkreuze am Rand der Autostraßen gehören dazu. Sie belegen, dass die immer wieder laut werdenden kulturkritischen Klagen über die gesellschaftliche Verdrängung von Tod und Trauer vielleicht doch verfehlt sind.

Im Übrigen deutet die wachsende Zahl der Internet-Gedenkseiten an, wie rasch sich die Trauerkultur den neuen Lebenswelten der postindustriellen Gesellschaft anzupassen vermag. Manchmal greift sie dabei auf alte Traditionen zurück. Analog zum bürgerlichen Grabmalkult des 19. Jahrhunderts versucht man auch im digitalen Gedenken, den Tod zu überwinden, indem man das Leben der Verblichenen noch einmal Revue passieren lässt, ihre Erfolge feiert und für alle Welt sichtbar verewigt. Nicht zufällig tauchen auf den Gedenkseiten des Internet wieder jene zu Lebzeiten aufgenommenen Fotografien von Verstorbenen auf, die seit langem von katholischen Grabstätten bekannt sind. Bildlich verbinden sie Leben und Tod. Diese Schnittstelle verleiht ihnen eine spezifische Aura, wie der Kunsthistoriker Hans Belting über die Grabfotografien schrieb - denn erst der Tod gibt der Erinnerung eine fundamentale Bedeutung.vi

So ist offenbar das gesellschaftliche Bedürfnis, dem Tod etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen, stärker als der Trend zur namen- und zeichenlosen Rasenbestattung zunächst vermuten lässt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verändern sich - wie im Reformationszeitalter - wieder einmal die Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten. Vielleicht entwickelt sich in den neuen Ausdrucksformen auch ein soziales und humanes Kapital, das sich als widerständig erweist gegenüber der manchmal zynischen Brutalität rein rationalistischen Denkens. Jedenfalls sind inzwischen bedeutende Bausteine einer neuen Kultur im Umgang mit dem Tod gelegt worden.

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