Sturmflut, Tod und Mentalität an der deutschen Nordseeküste (16.-19. Jh.)
III.
Wenden wir uns nun unbekannteren Sturmflutkatastrophen des 17. Jahrhunderts an der Niederelbe zu. Im Folgenden geht es um eine Serie von vier folgenschweren Sturmfluten zwischen dem 19. Oktober 1663 und dem Neujahrstag 1664. Es handelte sich dabei um die Sturmfluten vom 19./20. Oktober, 2. November, 9. November 1663 sowie vom 1. Januar 1664. Sie zogen schwere Deichbrüche nach sich und offenbarten gravierende Schwachstellen in der Deichunterhaltung und -sicherung. Die seinerzeit in den betroffenen Herzogtümern Bremen-Verden regierende schwedische Landesherrschaft setzte eine staatliche Kommission, die eine systematische Bestandsaufnahme der Schwachstellen im Deichwesen leisten sollte. Schließlich – und das ist immer zu bedenken – ging durch Deichbrüche jenes fruchtbare Marschenland verloren, auf dessen Ertrag der Wohlstand einerseits, die politisch-gesellschaftliche Autonomie der Marschenländer an der Nordsee andererseits beruhte.
Eben letztere wurde 1663/64 durch die von der Landesherrschaft eingesetzten Kommission unterminiert, da diese in die Handlungsautonomie der regionalen Akteure eingriff. Die staatliche Kommission sollte folgende Punkte klären:
1.) Wann die Deiche erstmals gebrochen waren und wie oft Wasser eingeströmt war;
2.) welche Interessenten betroffen und wie groß die jeweiligen Brüche waren und wann die Reparaturarbeiten begonnen wurden,
3.) wer nachlässig gewesen und schuld daran sei, daß das Land in Schaden gesetzt worden sei;
4.) wann die letzten Instandsetzungsarbeiten begonnen wurden und ob beschädigte Deiche noch nicht in Angriff genommen worden seien;
5.) war zu klären, ob durch Untätigkeit der Schaden größer geworden sei;
6.) und letztens wollte die Kommission erfahren, auf welche Weise die Deiche wiederhergestellt werden konnten, damit das Land vor Überschwemmungen sicher sei und die Sommersaat nicht behindert werden würde.
Also mischte sich die schwedische Landesherrschaft sich als Reaktion auf die Katastrophe 1663/64 massiv in die konkreten Belange der lokalen Schauungen, Deichgräfen und Interessenten ein. Sie tat dies auf zwei Ebenen: Erstens ließ sie sich regelmäßig von den verantwortlichen Deichgräfen Bericht erstatten, zweitens entsandte sie spezielle Beauftragte, die die Deiche vor Ort regelmäßig inspizierten. Damit griff sie in die traditionelle Deichautonomie der Marschenländer an der Niederelbe ein.
Noch etwas anderes tritt hier zu Tage: Das genannte und auch andere Beispiele aus den Archiven zeigen, dass man die Sturmfluten nicht mehr als unabwendbares „göttliches Strafgericht“ fatalistisch hinnahm. Im Gegenteil: Gerade die jahrhundertealte Erfahrung im Umgang mit dem Wasser hatte zu einem hohen Grad an praktischer Handlungsfähigkeit und einem gewissermaßen „rationalen“ Alltagspragmatismus geführt. Sicherlich bildeten die Strömungsverhältnisse der Elbe eine Naturgewalt, die nicht leicht in den Griff zu bekommen war. Der Bestand archivalischer Quellen zeigt für diese Epoche also eine teils gänzlich andere, eher nüchtern-pragmatische Perspektive ohne jede Thaumaturgie.
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