Sturmflut, Tod und Mentalität an der deutschen Nordseeküste (16.-19. Jh.)
II.
Wie nun nahm man Sturmflutkatastrophen wahr? Die Frühe Neuzeit brachte eine klimatisch durch die „kleine Eiszeit“ in Mitteleuropa bedingte lange Phase der Sturmfluthäufigkeit zwischen 1525 und 1700 mit sich. Der Eiderstedter Chronist Peter Sax, ein für die damalige Zeit vergleichweise gebildeter Landwirt, schrieb über die Sturmflut 1634: „Umb 8, und 9 Uhren waren alle Teiche [=Deiche] schon zerschlagen, eingerissen … Die Lufft war Voller Fewr, der gantze Himell brennete, und Gott der Herr, ließ Regenen, Hagelen, blitzemen, Donnern“ (nach RIEKEN, 238) Der Chronist bezieht das Geschehen also auf göttlichen Einfluss – und das gilt auch für andere Chroniken jener Epoche. Und auch in den Bittschriften der Betroffenen an die Obrigkeit, die in den Archiven zu finden sind, gibt es immer wieder Stellen, in denen die Betroffenen die Katastrophe als Gottes „gerechten Zorn“ und Strafe bezeichnen – wenngleich solche Passagen nicht selten routiniert-floskelhaft erscheinen und wohl nicht zuletzt dem Zweck dienten, die Obrigkeit gnädig zu stimmen. [2]
Gleichwohl wollte man die Sturmflutkatastrophen nicht als willkürliche Strafen verstehen. Gott, so überliefern es die Chronisten, warnt die Menschen, gibt Zeichen. Daher wird in vielen Chroniken von vorangehenden übernatürlichen Ereignissen oder subjektiven Vorahnungen berichtet, die sich angeblich vor der Katastrophe abspielten und das bevorstehende Unheil ankündigte. Im Hintergrund steht die Idee, dass Gott das Naturgeschehen stets lenkt. Hier sind die Übergänge zum Volksglauben, zur Welt der Sagen und Mythen fließend. Als solche Zeichen, die vor den Fluten warnten, galten in der Frühen Neuzeit veränderte Verhaltensweisen von Fischen (Aalen, Karauschen = Karpfenfische), aber auch die Erscheinung seltsamer Schattenbilder und wundersamer Gestalten in den Bauernstuben, wie der Wiener Volkskundler Bernd Rieken vermerkte (RIEKEN, 244-246). Bei allem Gottvertrauen wurden Sturmfluten auch als apokalyptische Ereignisse gesehen, die vom bevorstehenden Untergang einer „schlechten“ Welt künden. Dies galt nicht zuletzt für Vertreter einer „schwärmerischen“ Religiosität, wie sie die auf Eiderstedt geborene Spiritualistin und Gegnerin der Amtskirche vertrat, Anna Ovena Hoyer (1585-1655). Anna Ovena Hoyer dichtete nach der Sturmflut 1634, die sie in Tönning erlebte: „Reich und arm seind vmbkommen,/Viel 1000 in der Nacht,/Durch die Fluth hingenommen/vnd schnell zu Nicht gemacht.“ Zugleich betont sie in ihren vom schwärmerischen Laienchristentum geprägten Versen die eigene Errettung als wundersames Zeichen für die Erwählten (nach RIEKEN, 254).
Auch die Rungholt-Sage war, wie wir von den zeitgenössischen Chronisten wissen, im 17. Jahrhundert bereits vertraut. Diese bekannteste deutsche Sturmflut-Sage erzählt vom Untergang der nordfriesischen Insel Rungholt. Der Untergang wird als Strafe für frevelhaftes Verhalten gegenüber einem Inselgeistlichen interpretiert, der sich auf göttlichen Rat hin rechtzeitig vor der Flut in höher gelegene Gebiete retten konnte (RIEKEN, 177 ff).
Der Tod, insbesondere die Furcht vor dem frühen Tod im Wasser, spielte in den alltäglichen Lebenswelten an der Küste generell eine existenzielle Rolle. Es war die generell bedrohliche Unberechenbarkeit des Wassers in einer Gegend, die von extremen Natureinflüssen geprägt worden ist (KNOTTNERUS 1997). Bei Sturmflutkatastrophen trat der Tod besonders brutal hervor. So hieß es in einer Bittschrift von der Niederelbe nach der Sturmflutkatastrophe 1685: „Mit so mannigfältigem Elend und Jammer seyn wir arme Leute anitzo zugleich auff einmahl befangen und umbgeben, daß wir auch selbst nicht wissen, worüber wir am ersten seuffzen und klagen, weniger in welchen wir fürnemlich umb Rettung und Hülffe zu bitten den anfang machen sollen, zu geschweigen der grossen consternation und des Todes Schrecken, so unß die grausame fluth, undt mittelst derselben die ertrunkene Menschen durch ihr um salvirung derselben schreyende lezte Angst, auch das hin und her geschwommenes und in den Häusern selbst mit grossen getümmel ersäuffte Vieh, eingejaget, ja in mehrern betracht alle Errettungs Mittel verlohren, und keine Hoffnung einer solchen fluth zu entrinnen übrig gewesen.“ [3]
Die Kirchhöfe in den Nordseemarschen und auf den Inseln waren den zahlreichen Opfern häufig platzmäßig nicht gewachsen. Außerdem wurden viele Toten durch die Fluten weit abgetrieben und konnten oft nicht regulär bestattet, die üblichen Traditionen nachbarschaftlicher und liturgischer Totenfürsorge nur unzureichend eingehalten werden: Leichenpredigten, Trauerfeiern, Grabinschriften rückten in den Hintergrund. Darüber hinaus waren in den kalten Wintermonaten mit häufigem Dauerfrost manchmal wochenlang überhaupt keine Bestattungen möglich. Andererseits und grundsätzlich aber galt die christliche Bestattung auf dem immer höher auf einer Wurt gelegenen Kirchhof auch in den Katastrophenzeiten als vornehmste Pflicht (JAKUBOWSKI-TIESSEN 1992, 217-225).
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Quellen
[2]
Zum Beispiel: Schreiben der Hausleute des bützflethschen Landesteils vom 1. Februar 1643, in: StA Stade, Rep. 5b, Fach 86b, Nr. 25.
[3]
Bittschrift der kontributionspflichtigen Eingesessenen des bützflethschen Landesteils (ohne Datum, Eingangsvermerk 4. Dezember 1685), in: StA Stade, Rep. 5a, Fach 276, Nr. 3.
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