Vortrag am 4. Nov. 2006 in Stade

4. Deichordnung

Die unter Mitwirkung des Hofgerichtsassessors, Stader Bürgermeisters und Justizrates Jodocus Hackmann1 gestaltete bremisch-verdische Deichordnung von 1692 bildete den bis dahin weitreichendsten staatlichen Eingriff in das Deichwesen. Sie sollte sich in Zukunft als geradezu mustergültig erweisen.2 Die einzelnen Paragraphen dieser ersten allgemeinen Deichordnung für die Herzogtümer Bremen und Verden - und damit für Kehdingen die erste Kodifizierung des Deichrechts überhaupt - entstanden nicht aus heiterem Himmel. Sie beruhten im wesentlichen auf dem ortsüblichen Gewohnheitsrecht, also dem mündlich überlieferten "alten Herkommen".3 Die Deich- und Landesgräfen in Kehdingen und den anderen Marschenländern waren von der Obrigkeit aufgefordert worden, über das Gewohnheitsrecht in ihren Schauungen und Distrikten zu berichten (wir kennen einen Teil dieser Berichte bereits aus dem ersten Kapitel). Jodocus Hackmann selbst hatte im Jahr 1690 in einer Schrift über das Deichrecht im benachbarten Alten Land berichtet.4 So bildete nicht zuletzt deren nunmehr für die Herzogtümer postulierte allgemeine Verbindlichkeit das eigentlich Neue.Unter diesen Aspekten ist die bremisch-verdische Deichordnung nicht nur eine entscheidende Etappe in der "Verstaatlichung" des Deichwesens, sondern auch eine unschätzbare historische Quelle - in vielen Passagen vermittelt sie ein anschauliches Bild vom Umgang mit Deichen im späten 17. Jahrhundert.

Der Deichordnung von 1692 war ein langes Leben beschert. In der leicht modifizierten Fassung von 1743 blieb sie im Prinzip bis ins 20. Jahrhundert hinein richtungsweisend. Wie die Quellen zeigen, bezog man sich in vielen Konfliktfällen der Neuzeit immer wieder auf sie (wenn sich jedoch einzelne Probleme nicht auf ihrer Grundlage regeln ließen, wurde wieder das Gewohnheitsrecht zu Rate gezogen5). Die über Jahrhunderte währende Aktualität der Deichordnung dokumentierte auch, wie gründlich und systematisch sie erarbeitet worden war und machte sie auch überregional zu einem Meilenstein in der Geschichte des Deichwesens.

Nicht zuletzt war der Erlass der ersten bremisch-verdischen Deichordnung auch eine Reaktion auf technische Weiterentwicklungen, die - wie man meinte - von den Interessenten nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen geschweige denn umgesetzt wurden. Dies gilt beispielsweise für die Deichprofile, die einheitlicher gestaltet und neueren Erkenntnissen angepasst, das heißt vor allem abgeflacht werden sollten. Auch die Deichbautechnik veränderte sich in der frühen Neuzeit immer rascher - vom zunehmenden Einfluss der Militärtechnik war bereits zu lesen. Die Mängel im Land Kehdingen fielen in Stade nicht zuletzt deswegen besonders auf, weil sich in der staatlich-militärischen Organisation "überlegene Alternativen" formiert hatten.6 Wie nicht nur das Beispiel Hamelwörden 1663/64 gezeigt hatte, musste die Obrigkeit gerade in Kehdingen in Katastrophenfällen immer wieder auf ihre militärtechnisch geschulten Fachleute zurückgreifen. Später sollte mit August Metzner dann sogar ein Fortifikationsoffizier ins Amt des staatlichen Oberdeichgräfen berufen werden.

Fassen wir also zusammen: "In diesem Vorgang, der mit Zentralisierung und Vereinheitlichung der Organisation, Institutionalisierung der Kontrolle und des fachspezifischen Befehls, Kodifizierung des Rechts, vermessungstechnischer Erfassung und Rationalisierung technischer Verfahren verbunden war, spielten die Festungsingenieure eine wesentliche Rolle als Elemente der Modernisierung. Unter dem Druck technisch-ökonomischer Bedürfnisse wandelte sich die Deichverfassung und spiegelte damit zugleich den Wandel der gesellschaftlichen Organisation von der Genossenschaft zum hierarchischen Beamtenstaat, wie er für das 17. Jahrhundert üblich war."7

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