Vortrag am 4. Nov. 2006 in Stade

2. Deich als Statussymbol der Marschenbauern

Für Jahrhunderte wurde er zum Status- und Machtsymbol der sich aus dem grundbesitzenden Marschenbauerntum rekrutierenden sozialen Führungsschicht, zum Ausdruck ihrer Hegemonie in den Küstengesellschaften an der Nordsee. Die Zusammensetzung dieser ländlichen Oligarchie im Einzelnen konnte von Region zu Region durchaus verschieden sein: bisweilen wohlhabende Landadelige mit generationenweise in Familienbesitz befindlichen Gütern, die nicht selten Hunderte von Hektar umfassten - in anderen Fällen freie Bauern, die durch Landzukauf oder neue Eindeichungen wirtschaftlich aufsteigen konnten. Häufig zeigte sich die Oligarchie als Mischung zwischen beiden Gruppierungen. Dies galt dann, wenn - wie im Land Kehdingen, an der Niederelbe, das bald im Mittelpunkt stehen wird - die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen dem alteingesessenen Marschenadel und den freien Bauern eher schwach ausgeprägt waren.1 Kennzeichnend für diese Oligarchie war zunächst ihre relative, bis weit in die Neuzeit hineinreichende Unabhängigkeit von den jeweiligen Territorialherrschaften, oder, umgekehrt gesagt, ein hohes Maß an politisch-gesellschaftlicher Selbstverwaltung. Dies sollte sich für Kehdingen in der Schwedenzeit ändern.

Ihren institutionellen Ausdruck fand diese Unabhängigkeit - wie auch die hegemoniale Stellung der ländlichen Führungsschicht - in den Deichverbänden. Die Bedeutung der Deichverbände resultierte nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, die einmal gebauten Deiche zu unterhalten und gegebenenfalls zu reparieren. Wegen ihrer existentiellen Bedeutung bildeten die Deichverbände seit dem hohen Mittelalter die Basis der gesellschaftlich-politischen Binnenstrukturen in den Küstengesellschaften an der Nordseeküste. Der Deichverband repräsentierte in Kehdingen wie auch sonst an der Küste die soziale und ökonomische Elite. Insgesamt spielten also die Deiche im realen wie im symbolischen Sinn eine Schlüsselrolle.

Kommen wir nun zu unserem Fallbeispiel Kehdingen. Das Land liegt am südlichen Ufer der Niederelbe zwischen den Nebenflüssen Oste und Schwinge. Zum größten Teil aus Marschenland bestehend, ist es den von der Nordsee kommenden Gezeiten unvermittelt ausgesetzt. Bis ins hohe Mittelalter hinein war Kehdingen kaum mehr als eine topografische Bezeichnung gewesen, bevor es sich ab dem späten 13. Jahrhundert politisch als Landesgemeinde etablieren konnte. Innerhalb des werdenden Territorialstaates des Erzstiftes Bremen konnte es sich ebenso eine relative Unabhängigkeit bewahren wie als Teil des Herzogtumes Bremen, bevor es mit diesem nach dem Dreißigjährigen Krieg unter schwedische Herrschaft kam.2

Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts nimmt einen besonderen Platz ein, weil sie einige wichtige Zäsuren im Kehdinger Deichwesen brachte - ja, man kann sagen, dass jetzt, unter der schwedischen Herrschaft, die eigentliche "Neuzeit" eingeläutet wurde. Erstmals gab es wenigstens im Ansatz den Versuch, eine staatlich gelenkte Aufsicht über das Deichwesen zu schaffen. Mitglieder der Stader Provinzialregierung, wie die Justizräte Franz Julius Warner und Valentin Musculus von Mausen (der spätere Mausen von Löwenfels), betraten die Bühne und mischten sich massiv in die Belange der lokalen Deichgräfen und Schauungen ein. Überregional bekannte Militäringenieure wie Dionys Bredekow wurden in Katastrophenfällen wegen ihrer technischen Kompetenz von der Obrigkeit zu den Kehdinger Deichen gesandt. Und auch langfristig hinterließ die Schwedenzeit deutliche Spuren im Deichwesen: durch den Erlass einer ersten allgemeinen Deichordnung und die Einrichtung des Oberdeichgräfenamtes.

Diese ersten staatlichen Eingriffe in das Deichwesen standen nicht isoliert im Raum, sondern waren Teil einer umfassenden Reform der Verwaltung, die zur Reglementierung breiter Lebensbereiche führte - Beate-Christine Fiedler hat dies in ihrer Dissertation ausführlich beschrieben und die Gründe darlegt - daher braucht hier darauf nicht eingegangen zu werden. . Die schwedische Landesherrschaft nutzte dabei geschickt ihre politischen Möglichkeiten, die sich aus dem Westfälischen Friedensvertrag, dem Landtagsabschied von 1651, den ständischen General- und Spezialprivilegien und der Regierungsordnung von 1652 ergaben. Sie versuchte, so resümiert Beate-Christine Fiedler, " ... die bis 1645 noch nahezu mittelalterlich regierten Bistümer an moderne Verwaltungsprinzipien heranzuführen."3

Dies geschah keineswegs aus Philantropie, sondern ergab sich in erster Linie aus den militärischen und finanziellen Bedürfnissen der neuen Landesherren: "Die Herzogtümer sollten der schwedischen Krone als Finanz- und Militärbasis dienen. Feste Einnahmequellen, der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft und die Einrichtung einer ordentlichen Kammerverwaltung mit regelmäßigen Haushaltsvoranschlägen sowie guter Buch- und Rechnungsführung auf der einen Seite, die starke Befestigung der Provinzen ... auf der anderen Seite waren die wichtigsten Funktionen der deutschen Provinzen für die schwedische Krone."4

Vor allem nach 1692 wurden die bisherigen lokalen Kompetenzen in Gesellschaft, Recht und Verwaltung durch den Erlass einer allgemeinen "Policey"-Ordnung stärker in den staatlichen Rahmen eingebunden. Dies kann als Versuch der Landesherrschaft gelten, mehr und mehr in bisher "private" Bereiche einzudringen. Es ging darum, jene häufig lokal verankerten Bräuche und Gewohnheiten zu vereinheitlichen, die auf dem "alten Herkommen" beruhten: "Alle Unstimmigkeiten, deren Abschaffung nicht bereits durch Tradition, Gesetz oder Recht geregelt wurden, sollten bekämpft werden. Viele Bestimmungen wurden erlassen, die das private Leben regelten, das heißt religiöse und moralische Fragen, Kindererziehung, Kleidung, Sparsamkeit bei Begräbnissen, Maße und Gewichte, Handel und Konkurs etc. ...".5 Zusammen mit dieser "Policey"-Ordnung wurde übrigens die erwähnte erste allgemeine Deichordnung erlassen, die uns später noch ausführlich beschäftigen wird.

Trotz aller Zentralisierungsbestrebungen konnten aber "altes Herkommen", tradierte Bräuche und Gewohnheiten nicht einfach ausgelöscht werden. Gerade viele jener Vorrechte, die die lokalen Verwaltungsstrukturen so unübersichtlich machten, blieben im Grunde unangetastet. Selbst die Provinzialverwaltung konnte immer dann eine relative Eigenständigkeit bewahren, wenn schwedische Interessen nicht unmittelbar berührt wurden.6

Der früheste Hinweis auf einen Eingriff der - damals noch neuen - schwedischen Landesherrschaft in das Deichwesen datiert aus dem Jahr 1652. Gerade die Sicherheit der Deiche musste im ureigenen Interesse der Landesherrschaft liegen, weil Deichbrüche die Wirtschaftskraft schwächten und damit die erwarteten Kontributionsgelder minderten.7 So unternahmen die Schweden frühzeitig den Versuch, eine staatliche Aufsichtsinstanz zu installieren: Am 9. November 1652 wurde Johann Bernhard[t] Buller als Oberdeichgräfe für die Herzogtümer Bremen und Verden bestellt - wegen seiner im Teichwesen habenden guten Wißenschafft, wie es wörtlich hieß. Offizielle Aufgabe dieses neuen staatlichen Amtes war es, die Teiche, Däme, Schleußen, undt waß demselben anhengig zu überwachen und ihre Instandhaltung zu prüfen. Künftigen Deichbrüchen sollte durch entsprechende Maßnahmen vorgebeugt werden, die noch überschwemmten Gebiete baldmöglichst wieder vom Wasser befreit werden. Buller wurde die Ober-Inspection über die lokalen Deichgräfen sowie über die Land- und Deichgeschworenen zugesprochen, welche er in ihrer Tätigkeit beobachten und überwachen sollte. Die Eingesessenen, Deichgräfen, Land- und Deichgeschworenen wurden angehalten, dem Oberdeichgräfen nicht nur gebührenden Respekt, sondern auch die nötige Unterstützung angedeihen zu lassen - was vor Ort verständlicherweise auf wenig Begeisterung stieß, weil es die Rechte und Kompetenzen der lokalen Schauungen einschränkte.8

Johann Bernhard[t] Buller (oder Bulder)9 stammte aus dem ostfriesischen Emden und hatte zuvor als Zimmermeister, Deichbauunternehmer und Deichaufseher unter anderem an der Niederems gewirkt. Als selbstständiger Deichbauunternehmer verkörperte er den neuartigen Typus des "Entrepreneur", der vor allem dort seine Aufgaben fand, wo Kommuniondeichung vorherrschte und Deicharbeiten als Aufträge an freie Unternehmer vergeben wurden. Innerhalb der Herzogtümer Bremen und Verden hatte sich Buller im Land Wursten bereits 1636 beim Bau des Norderneufelder Deiches engagiert.10

Allerdings ist von Bullers Wirken als Oberdeichgräfe im weiteren kaum etwas überliefert. Stattdessen ist bekannt, dass er 1658/59 als Unternehmer wiederum am Deichbau im Land Wursten beteiligt war. Zugleich gibt es Hinweise, dass er zur gleichen Zeit in Sachen Deich- (und Fortifikations-) Wesen aus der königlichen Kasse bezahlt wurde11 - ein Indiz, dass er sein Amt als Oberdeichgräfe zumindest Ende der 1650er Jahre noch ausübte. Im übrigen aber lassen sich von diesem Amt in den Quellen der folgenden Jahrzehnte keine Spuren mehr finden - bevor 1696 dann endgültig und auf Dauer das Amt eines staatlich bestallten Oberdeichgräfen in den Herzogtümern eingerichtet wurde.12

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