Zur Aktualität und Geschichte des verborgenen Todes

Prof. Dr. Norbert Fischer (Universität Hamburg)
erschienen in: Thomas Klie (Hrsg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung. Stuttgart 2008, S. 44-55.

4. Ein ambivalentes Phänomen

Eine Bestattung der Aschenreste war im menschenverachtenden System der Konzentrations- und Vernichtungslager nicht vorgesehen. In der zivilisierten Gesellschaft hingegen hatte die Feuerbestattung schon in ihren Anfängen neue Formen der Beisetzung hervorgebracht. Wurden zunächst – in antiker Tradition – Kolumbarien errichtet beziehungswese Urnen oder Vasen mit der Asche auf den Grabstätten aufgestellt, so ging man alsbald zur platzsparenden unterirdischen Aschenbeisetzung über. Im Zuge der Grabmalreform des frühen 20. Jahrhunderts kam es bei den Aschengrabmälern zur „Miniaturisierung“ – häufigste Formen waren nun kleine Stelen, rechteckige Platten oder Kissensteine. Seit den 1920er Jahren wurden gerade die Aschengrabstätten zum Musterbeispiel für die „Standardisierung“ und „Serialisierung“ der Grabmalkultur in Deutschland. Daneben blieben in Einzelfällen die üblichen Symbole der Feuerbestattung geläufig: Urne und Flamme.

Die anhaltende Aufwärtsentwicklung der Feuerbestattung rief neue Varianten der Aschenbeisetzung hervor. In der ehemaligen DDR entstanden bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges so genannte „Urnengemeinschaftsanlagen“ – großflächige, meist rasenbegrünte Beisetzungsflächen ohne individuelle Grabstätten bzw. –mäler, die den staatssozialistischen Vorstellungen von kollektiver Bestattung, die gesellschaftliche Unterschiede im Tod verschwinden lassen sollte, entsprachen. Es handelt sich um jene Form der Rasen- oder „anonymen“ Bestattung, die sich in den westlichen Bundesländern erst seit Mitte der 1970er Jahre und zunächst auch nur zögerlich durchsetzte. Zwar sieht die Rasenbestattung nicht zwingend ein Aschengrab vor, letzteres ist aber das übliche.

Die Rasenbeisetzung hat das Erscheinungsbild der Friedhöfe grundlegend verändert – aus den einstigen „Grabmal-Landschaften“ sind zunehmend freie weitläufige Rasenflächen geworden. Gänzlich neu ist sie allerdings nicht, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Bereits im späten 18. Jahrhundert verfügte der Neue Begräbnisplatz (1787) in Dessau über eine namen- und zeichenlose Rasenfläche als Bestattungsplatz. Der Dessauer Friedhof galt damals als Modellfall eines Begräbnisplatzes, der den zeitgenössischen Idealen von sozialer Gleichheit einerseits, Naturästhetik andererseits entsprach. Noch radikaler waren utopische, nie realisierte Entwürfe aus dem Umfeld der Französischen Revolution, wie Pierre Girauds Pariser Bestattungspyramide, bei der ebenfalls individuelle Grabmäler entfielen, weil im Tod alle gleich sein sollten. über 130 Jahre später – in der Weimarer Republik – schlug der Friedhofsreformer und Dresdner Stadtbaurat Paul Wolf kollektive Beisetzungen in einem monumentalen Aschengrab vor. Im übrigen wurden bereits im frühen 20. Jahrhundert Armen- oder Sozialbestattungen an einigen Orten in Deutschland als „anonyme“ Beisetzung vorgenommen.

Seit einigen Jahren wandeln sich die Formen der Aschenbeisetzung. Zunehmender Beliebtheit erfreut sich beispielsweise die so genannte „Baumbestattung“, bei der die Asche unter Baumwurzeln in freien Waldflächen beigesetzt wird. Neben der Vermarktung durch kommerzielle Unternehmen („Friedwald“, „Ruheforst“) wird die Baumbestattung auch auf klassischen Friedhöfen angeboten. Zu den neuen Trends zählt darüber hinaus die Anlage von besonderen „Aschenlandschaften“ auf städtischen Friedhöfen wie in Karlsruhe.

übrigens ist es noch immer die Ausnahme, wenn in deutschen Städten öffentliche Hinweissschilder auf ein Krematorium verweisen. Reist man hingegen nach Großbritannien, so sind solche Schilder kaum zu übersehen. Feuerbestattung und Krematorien spielen hier eine andere Rolle. In Großbritannien wie auch in weiteren Ländern ist – im Gegensatz zu Deutschland – das freie Verstreuen der Asche gestattet. Niederländische Krematorien bieten ein breites Dienstleistungsangebot für Beisetzungen, das beispielsweise auch ein Trauermahl umfasst. Auch in Skandinavien sind die Friedhöfe vom hohen Anteil an Feuerbestattungen beziehungsweise anonymen Rasenbestattungen geprägt. In Dänemark werden über 70% aller Toten eingeäschert. Entsprechend spielen die Krematorien und Urnenfriedhöfe eine große Rolle. Das dänische Friedhofswesen ist liberaler, mithin weniger von Reglementierungen geprägt als das deutsche. Häufig werden individuell kreierte Grabsteine aufgestellt, Urnen von den Hinterbliebenen bemalt.

Aber auch in Deutschland ist etwas in Bewegung geraten. In den 1990er Jahren mussten viele ältere Krematorien aufgrund verschärfter gesetzlicher Emissionsschutzbestimmungen schließen. Die notwendige Umrüstung wäre zu kostspielig gewesen. So kam es zu etlichen Krematoriumsneubauten – darunter auch privatwirtschaftlich betriebene Anlagen. Das erste rein private Krematorium in Deutschland wurde im September 1997 im rheinland-pfälzischen Landau in Betrieb genommen, weitere folgten unter anderem in Stade und Braubach bei Koblenz. Häufig traten bei solchen privatwirtschaftlich organisierten Krematorien jedoch Kommunen als Anteilseigner auf, auch Bestattungsunternehmen engagierten sich.

Die seit einigen Jahren spürbar zunehmenden Diskussionen über Gestaltung und Funktion von Krematorien zeugen davon, dass – wie im späten 19. Jahrhundert – wieder eine öffentliche Auseinandersetzung über die Feuerbestattung stattfindet. Der Trend geht zu kleinen Krematorien mit vielfältigem Dienstleistungsangebot – wie das Beispiel Stade zeigt, ist es für die Akzeptanz in der Bevölkerung kein Hemmnis, wenn ein Krematorium im Gewerbegebiet liegt. Das Konzept, die Einäscherung auf Wunsch in die Trauerzeremonien einzubeziehen, wird programmatisch vom „Flamarium“-Konzept des Feuerbestattungsvereins beziehungsweise Krematoriums in Halle/Saale praktiziert. Bereits 1927 meinte der erwähnte Dresdner Stadtbaurat Paul Wolf, es sei „folgerichtiger, wenn die Einführung des Sarges in den Verbrennungsofen direkt vor den Augen des Trauergefolges in der Kapelle selbst erfolgen würde, so daß die eigentliche Verbrennung den feierlichen Abschluß des Traueraktes darstellt.“ Wie dem auch sei: Die genannten und ähnliche Entwicklungen, die immer wieder auch das Interesse der öffentlichkeit wecken, können dazu beitragen, den allzu lang verborgenen Tod im Krematorium aus dem Bereich des Geheimen, ja Anrüchigen zu holen.

Das Krematorium war einst ein Element der „Entzauberung des Todes“, zu deren Verlierern die Kirchen gehören. Die gesellschaftliche Dynamik hygienischer und technischer Rationalität war stärker als die Macht des Glaubens. Vielleicht bedarf es gerade deshalb es weiterer gesellschaftlich-öffentlicher Diskurse um das Krematorium und seine Folgewirkungen – schließlich handelt es sich um eines ambivalentesten Phänomene der technischen Moderne.



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