5. Public Mourning: Trauer und Erinnerung im öffentlichen und digitalen Raum

Parallel dazu hat sich die Bestattungs- und Erinnerungskultur im frühen 21. Jahrhundert neue Orte jenseits des klassischen Friedhofs erobert. Dabei spielen Natur und Landschaft eine bedeutsame Rolle. Zugleich resultiert daraus ein tendenzielles Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits und Trauer- und Erinnerungsort andererseits. Erinnerung und Gedächtnis bleiben ohne gesellschaftliche Relevanz, wenn sie nicht auch vermittelt werden – was aber bisher auf die Friedhöfe konzentriert war, wandert nun vermehrt in unterschiedlichen Materialisierungen in den öffentlichen Raum. Der in der Neuzeit ausgeprägten räumlichen Abgrenzung und Ausschließung, die sich im Sepulkralen in dem vor die Tore der Stadt verlegten Friedhof wiederfindet, setzen die neuen Bestattungs- und Erinnerungsorte eine Verknüpfung mit den Räumen der Lebenden entgegen.

Weitere Varianten gegenwärtiger Trauer- und Erinnerungskultur haben sich vom Bestattungsort gelöst. Zu ihnen zählt „public mourning“, also die Trauer im öffentlichen Raum. Kreuze am Straßenrand als Erinnerungsorte für Verkehrsopfer gehören ebenso dazu wie Trauer- und Erinnerungsstätten für bekannte Persönlichkeiten. Kreuze am Straßenrand und vergleichbare Memorials bilden einen individuell-schöpferischen Akt der Trauer- und Erinnerungsarbeit in einer mobilen Gesellschaft, deren Symbol die Straße ist. Solche Memorials sind zumeist temporärer Natur und sind manchmal nur wenige Wochen oder Monate, manchmal mehrere Jahre zu sehen. [8]

Auch das Medium Internet und die sozialen Netzwerke haben neue Muster von Trauer und Erinnerung hervorgebracht, die unabhängig vom Bestattungsort sind. [9] Die wachsende Zahl der Internet-Gedenkseiten zeigt, wie rasch sich der Umgang mit Tod und Trauer den neuen Medien der postindustriellen Gesellschaft anzupassen vermag. Mit der Möglichkeit, elektronische Botschaften zu hinterlassen, werden Privatheit und öffentlichkeit in eine neue Beziehung gebracht. Manche Einträge umfassen seitenlange (Lebens-) Geschichten, persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik, Erinnerungsobjekte. Zu den Gründen zählt der Bedeutungsverlust herkömmlicher, lokal gebundener Formen der Bestattungs- und Trauerkultur, wenn der Verstorbene zum Kreis hochmobiler Personen mit wechselhafter Lebensgeschichte zählt. Im übrigen ermöglicht das virtuelle Totengedenken neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation über den Tod, die die bisherige, bipolare Ausrichtung der Trauerfeiern (Redner/Trauergemeinschaft) auflöst und es gestattet, unabhängig von vorgegebenen Räumen neue Formen der emotionalen Anteilnahme zu mobilisieren. [10]

Zusammengefasst unterliegt die Bestattungs- und Erinnerungskultur im frühen 21. Jahrhundert allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen, durch die das postindustrielle Zeitalter gekennzeichnet ist. Deren Muster sind in der Regel individualistischer und pluralistischer als die des bürgerlichen Zeitalters. Dazu gehören beispielhaft patchworkartige Trauerzeremonien und neue Bestattungs- und Erinnerungsorte in der freien Natur und im öffentlichen Raum.



Quellen

[8] Aka, Unfallkreuze, 2007.
[9] Gebert, Erinnerungskultur, 2009.
[10] Ebd., 233-235, S. 238.