Zwischen Reetdach und City-Center:
Vom Hamburger Umland zur Metropolregion
Prof. Dr. Norbert Fischer (Universität Hamburg)

Zusammenfaßung der Einleitungen aus:
Norbert Fischer: Vom Hamburger Umland zur Metropolregion. Stormarns Geschichte seit 1980. Hamburg 2008 (DOBU-Verlag)
Norbert Fischer: Die modellierte Region. Zur Geschichte Stormarns und des Hamburger Umlandes vom Zweiten Weltkrieg bis 1980. Neumünster 2000 (Wachholtz-Verlag)

3. Ein neues Leitbild: Die Entwicklung seit 1980

Heute zählen die Hamburg-Umlandkreise im Allgemeinen wie der Kreis Stormarn im Besonderen zu den Regionen mit dem höchsten Kaufkraftindex in Deutschland. Innerhalb der Metropolregion Hamburg verzeichnete Stormarn im Jahr 2008 mit 122,8 (Deutschland-Durchschnitt = 100) den höchsten Kaufkraftindex – während die Hansestadt Hamburg hinter Pinneberg und dem Landkreis Harburg mit 111,5 erst auf dem vierten Platz landet.

Als um 1990 eine repräsentative Befragung der Stormarner Bevölkerung zur Beurteilung der eigenen Lebenswelt durchgeführt wurde, wurden als Vorzüge zum Beispiel genannt „viel Grün“, „schöne Landschaft“ und „ländliche Gegend“. Stormarn präsentierte sich als eine attraktive Wohnregion in der Nähe der Großstadt Hamburg. Zugleich kam es in Stadt und Land zur Historisierung architektonischer Ensembles, Denkmalschutz und Dorferneuerung spielten eine immer größere Rolle – sie bildeten gerade in Stormarn ein Pendant zur gewerblichen, verkehrs- und bevölkerungsmäßigen Verdichtung.

Das zeigt auch, wie sehr Stormarn zu einem Patchwork unterschiedlicher Funktionsräume geworden ist. Als Region zwischen Stadt und Land zeigt es sich geprägt durch eine Gemengelage von Wohn- und Gewerbegebieten, Inseln historischer Lebenswelten (Architektur) und „unberührter“ Natur (Naturschutzgebiete, Biotope, Naturdenkmäler). Diese Entwicklung ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, daß Stormarn – wie auch die benachbarten Kreise – frühzeitig von jenem raumplanerischen Zugriff erfaßt wurden, der seinen vorläufigen Höhepunkt im Konzept der Metropolregion Hamburg gefunden hat.

Stormarn ist bis heute ein Musterbeispiel für die sich verändernden, neu austarierten Lebenswelten im Spanungsfeld zwischen Stadt und Land geblieben. Metropole und umliegende Region werden nicht mehr in einseitigen, hierarchischen Abhängigkeiten, sondern in ihren wechselseitigen, mehr oder weniger austarierten Beziehungen betrachtet. Zugleich gewinnt die sich verstädternde Region jenseits der Metropole zunehmend an Eigengewicht. Als „Postsuburbia“ ist sie zu einem neuen Raumtypus geworden, der durch eine starke soziale und funktionale Ausdifferenzierung gekennzeichnet ist (Wohnen, Einzelhandel, Gewerbeobjekte, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und größere Infrastruktureinrichtungen). Dies ist zugleich die Basis für das neue, selbstbewußte Verhältnis gegenüber der Metropole.

Auf einer Fahrt durch Stormarn sieht man häufig alte Dorfplätze mit Anger, reetgedeckte Häuser, Mühlenteiche, historische Gotteshäuser mit Kirchhöfen sieht – kurzum: ländliche Milieus, die so gar nicht dem Bild einer verdichteten Stadtregion entsprechen wollen. Nicht zufällig bildete die „Dorferneuerung“ in Stormarn eines der großen Thema nach 1980. Ebenso wie das öffentliche „Reetdach-Programm“, das den Erhalt traditionell gedeckter ländlicher Bauten förderte, symbolisierte sie die kompensatorische Sehnsucht nach dem Einfachen und Ländlichen in einer sich rasch, vielleicht allzu rasch wandelnden Lebenswelt. Gerade das Dorf war ja von diesen Veränderungen betroffen. So erfuhren Denkmalschutz und Denkmalpflege im späten 20. Jahrhundert eine erstaunliche Konjunktur: „Daß der Denkmalschutz, lange Zeit in einem Winkeldasein, neue Aufmerksamkeit erfuhr, war zugleich eine Reaktion auf den überbordenden Bau-Boom und die zahlreichen Bausünden der fünfziger und sechziger Jahre.“

Damit findet sich zugleich eine Hinwendung zu symbolischen, häufig historischen Werten, wie „Heimat“ und historische „Identität“ – ein immaterielles Flechtwerk kultureller Symbole, das die Vielschichtigkeit postsuburbaner Lebenswelten andeutet. Bis heute gelten spezielle Leitbilder als unerläßlich, um die Eigenart des Dorfes zu definieren – die Zukunft des Dorfes wird auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf wißenschaftlicher wie politischer Ebene diskutiert. Gegen das hierarchische, noch aus den 1930er Jahren stammende und von der NS-Diktatur geprägte Prinzip der „Zentralen Orte“ und gegen die funktional-planerischen Gebietsreformen wird zunehmend das Leitbild des „autonomen Dorfes“ gesetzt.

In ähnlich kompensatorischer Funktion wie Dorferneuerung und Denkmalschutz zeigt sich die seit dem späten 20. Jahrhundert deutlich gestiegene Sensibiliät gegenüber Fragen des Natur-, Landschafts- und Umweltschutzes. Fluß- und Teichlandschaften wurden renaturiert, neue Naturschutzgebiete ausgewiesen. Neben den 17 Stormarner Naturschutzgebieten zählen insbesondere Naturdenkmale (Bäume [Solitäre], Alleen, Findlinge und ähnliches) und Biotope zu diesen das Erscheinungsbild des Kreises prägenden Merkmalen.

Gleiches gilt für die Metropolregion Hamburg insgesamt, zu der Stormarn gehört und die im Laufe des vorliegenden Buches eine entscheidende Rolle spielen wird. Sie umfaßt die Freie und Hansestadt Hamburg sowie die niedersächsischen Landkreise Cuxhaven, Stade, Harburg, Lüneburg, Rotenburg/W., Soltau-Fallingbostel, Stade, Uelzen und die schleswig-holsteinischen Kreise Dithmarschen, Steinburg, Pinneberg, Segeberg, Stormarn und Herzogtum Lauenburg. Das Gesamtgebilde beinhaltet eine Fläche von 18.000 kmē und erstreckt sich über 14 Landkreise mit rund 800 Kommunen. Von den insgesamt ca. vier Millionen Menschen entfallen 42% auf der Fläche der Hansestadt Hamburg, 30% auf Niedersachsen und 27% auf die schleswig-holsteinischen Landkreise.

Das bundes- wie europaweit geregelte Konzept der „Metropolregionen“ entstand ursprünglich im Kontext der ökonomisch motivierten europaweiten Konkurrenz um Wirtschaftsansiedlungen. Es vereint politische Grenzen überschreitende Formen raumplanerischer Zusammenarbeit. Ziele sind die Förderung von Wirtschaft und Verkehr, Naherholung und Freizeit. Dabei werden neuartige Groß-Infrastrukturen geschaffen. Die raumauflösende Wirkung des Metropolregion-Konzeptes zeigt sich besonders auf dem Verkehrßektor. Die Ausdehnung des Hamburger Verkehrs-Verbundes (HVV) auf die gesamte Fläche von mehreren Umlandkreisen in Schleswig-Holstein (seit Ende 2002) und Niedersachsen (seit Ende 2005) war einer jener Schritte, deren Auswirkungen für die Bevölkerung besonders spürbar war. Räume gerieten dadurch stärker als zuvor in Bewegung.

Solche planerischen Neuformierungen des Großraumes Hamburg im Allgemeinen und Stormarns im Besonderen haben immer wieder Skepsis und Kritik hervorgerufen. Sie wurden beispielsweise als „Verschleifungßtrategie“ zu Lasten alter, identitätßtiftender Lebenswelten kritisiert. Nach wie vor gibt es – auch unter Architekten, Stadt- und Raumplanern – eine nur begrenzteAkzeptanz der neuartigen Stadtregionen, weil sie nicht den klaßischen Wahrnehmungßchemata entsprechen: „Die diffusen Räume unserer Ballungsgebiete sind für die meisten Menschen zeichenlos. Dem ungestalteten Raum wurden keine expliziten Zeichen für seine Lesbarkeit gegeben, und die Nutzung dieser Räume ist auf den ersten Blick so bezugslos zu dem Ort, an dem sie stattfindet (Pendlertum, Schlafstädte, Baumärkte), daß auch von dieser Seite keine den Ort unverwechselbar kennzeichnenden Zeichen entstehen. Wenn überhaupt Zeichen gesehen werden, dann sind sie also austauschbar – das heißt, der Ort bleibt anonym.“

Auch in Stormarn hat der rasche Wandel nicht gerade dazu beigetragen, daß sich eine besondere regionale Identität herausbilden konnte. Im Gegensatz zu anderen schleswig-holsteinischen Kreisen, wie Dithmarschen oder Nordfriesland, ist das Bewußtsein, Stormarnerin oder Stormarner zu sein, Ende des 20. Jahrhundert nur schwach ausgeprägt gewesen.

So gesehen, kann man von der Existenz eines „doppelten“ Stormarn sprechen. Es besteht auf der einen Seite aus dem am Reißbrett vorstrukturierten idealem Raum der Planer, denen eine austarierte und wohlgelenkte Mischung aus unterschiedlichen Funktionsflächen vorschwebt. Dieses Stormarn finden wir in den mehrfach modifizierten Kreisentwicklungsplänen der 1980er und 1990er Jahre, im Regionalplan für das nördliche Hamburger Umland und in den unterschiedliche planerischen Studien für einzelne Teile des Kreisgebietes. Auf der anderen Seite entfalten sich – erwachsend aus den neuen Bedürfnißen der postmodernen Gesellschaft und Kultur – völlig neue Lebenswelten, die sich nur schwerlich in einen starr vorstrukturierten Rahmen unterbringen laßen. Gerade die von der individuellen Mobilität ermöglichte „Verflüßigung“ von Alltag und Lebenswelten widerspricht dem Konzept zentralistischer Lenkung. Die eigene Geschichte, die eigene Identität will immer wieder neu „erfunden“ werden – für das einzelne Individuum wie füür die Region insgesamt.

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