Zwischen Reetdach und City-Center:
Vom Hamburger Umland zur Metropolregion
Prof. Dr. Norbert Fischer (Universität Hamburg)

Zusammenfaßung der Einleitungen aus:
Norbert Fischer: Vom Hamburger Umland zur Metropolregion. Stormarns Geschichte seit 1980. Hamburg 2008 (DOBU-Verlag)
Norbert Fischer: Die modellierte Region. Zur Geschichte Stormarns und des Hamburger Umlandes vom Zweiten Weltkrieg bis 1980. Neumünster 2000 (Wachholtz-Verlag)

2. Nachkriegsnot und Neubeginn (1945-1980)

Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich alle sechs Umlandkreise – nördlich wie südlich der Elbe – ähnlichen Problemen ausgesetzt. Sie waren durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 flächen- und bevölkerungsmäßig dezimiert sowie wirtschaftlich amputiert worden. Durch die aus dem Osten kommenden Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Hamburger Bombenflüchtlinge hatte sich jedoch die Einwohnerzahl im Umland teilweise verdoppelt. Dieser Flüchtlingszustrom rief enorme infrastrukturelle Probleme hervor. Es fehlte an Wohnungen, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Verkehrswegen – kurzum: an der notwendigen Infrastruktur. Zudem gab es im Umland viel zu wenig Arbeitsplätze. Die Folge war eine rasch steigende Zahl von Auspendlern, die in der nahen Großstadt Hamburg ihren Arbeitsplatz fanden. Viele Umlandkommunen drohten damit zu reinen Pendlerorten und „Schlafstädten“ zu werden, wie beispielweise Neu-Wulmstorf und Buchholz/Nordheide im niedersächsischen Landkreis Harburg, Glinde und Harksheide im schleswig-holsteinischen Stormarn.

Eine mögliche Antwort auf diese Probleme bot die Ansiedlung von Gewerbe und Industrie. Die Ausgangslage war günstig: Die Metropole Hamburg konnte ihren in den 1950er und 1960er Jahren expandierenden Unternehmen längst nicht mehr genügend Erweiterungsflächen anbieten. Zahlreiche Firmen nutzten die Gelegenheit und wanderten ins Umland ab – damit setzte im Großraum Hamburg ein über Jahrzehnte anhaltender Prozeß der Industriesuburbanisierung ein. Er wurde in den Umlandkreisen teilweise von kreiseigenen Wirtschaftsförderungsgesellschaften unterstützt und gelenkt – so bereits in den 1950er Jahren in Pinneberg und Stormarn. Die neuangesiedelten Unternehmen boten nicht nur Arbeitsplätze, sondern erhöhten auch die Steuereinnahmen der Umlandkommunen. Darüber hinaus zogen sie die Ansiedlung von Dienstleistungsbetrieben nach sich. Indem die Industriesuburbanisierung dörflich-agrarisch-kleingewerbliche Produktionsformen ablöste, wurde sie zum wichtigsten Katalysator der regionalen Modernisierung im Hamburger Umland.

Später lösten die Schaffung der neuen Arbeitsplätze im Umland und das zunehmende Bedürfnis nach dem Eigenheim „im Grünen“ seit den 1960er Jahren eine zweite Zuzugswelle ins Umland aus. Diese Bevölkerungßuburbanisierung wurde durch die maßenhafte Verbreitung des Autos begünstigt; den zweiten Katalysator der regionalen Modernisierung. Die Infrastruktur wurde dafür systematisch ausgebaut. Das Umland orientierte sich dabei an städtischen Standards und gewann Anschluß an die moderne, urban orientierte Gesellschaft. Die dörfliche Klärgrube wurde von der Vollkanalisation abgelöst, die Straßen verbreitet, begradigt, asphaltiert und elektrisch beleuchtet. Ein Telefonanschluß wurde immer selbstverständlicher.

Auch auf der Planungsebene wurden Hamburg und das Umland immer stärker miteinander verflochten. Industrie- und Bevölkerungßuburbanisierung sowie der Ausbau der Infrastruktur waren eingebettet in eine länderübergreifende Raumplanung – dem dritten Katalysator der Modernisierung. Vor allem zwischen den vier schleswig-holsteinischen Umlandkreisen und Hamburg fand eine enge, allerdings gelegentlich auch konfliktgeladene Abstimmung in Sektoren wie Verkehr, Wohnungsbau, Bildungswesen und anderen statt. Raumordnerisch diente diese – für bundesdeutsche Verhältniße relativ früh einsetzende und intensive – länderübergreifende Regionalplanung vor allem dem Ziel, die gewerblich-industrielle und bevölkerungsmäßige Verdichtung innerhalb des Umlandes auf bestimmte Räume, die bereits erwähnten so genannten Entwicklungs- beziehungsweise Aufbauachsen, zu konzentrieren.

Daß diese Entwicklungs- beziehungsweise Aufbauachsen für den regionalen Strukturwandel eine besondere soziale und wirtschaftliche Bedeutung hatten, ließ sich bereits für die Zeit Mitte der 1960er Jahre empirisch belegen. Bereits damals hoben sich die Achsenräume als gewerblich-industriell und bevölkerungsmäßig verdichtete Zonen deutlich von den übrigen Umlandgebieten ab. Der Anteil der Bevölkerung in den Achsenräumen lag – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung des Hamburger Umlandes (40-km-Radius) – im Jahr 1964 bei 71%, der Wohnungsbestand bei 73%. Mit anderen Worten: Fast drei Viertel der Bevölkerung und fast drei Viertel der Wohnungen des Hamburger Umlandes konzentrierten sich auf die Achsen. Der Anteil der Beschäftigten betrug sogar 81% (1961).

Beispielhaft läßt sich diese Entwicklung am Raum Reinbek/Glinde im südöstlichen Hamburger Randgebiet veranschaulichen, das eine besonders rasche Suburbanisierung durchlief. Schon Ende der 1950er Jahre wies die schleswig-holsteinische Landesplanung auf die besonderen Probleme von Reinbek mit einem hohen Auspendleranteil hin. Um hier gegenzusteuern, sollte Reinbek als eigener Gewerbestandort und eigene Wohngemeinde ausgebaut werden. Wie ein Katalysator wirkte ein 1960 angelegtes Gewerbegebiet, das in der Folge stetig erweitert wurde. Dieses Gewerbegebiet, das auf Flächen der drei Gemeinden Reinbek, Glinde und Schönningstedt lag, zog in den 1960er Jahren viele Betriebe an, deren wachsende Belegschaften weiteren Siedlungsbau herausforderten. Die Bevölkerungszahl von Reinbek stieg allein zwischen 1961 und 1970 von knapp 11.000 auf über 15.000. Architektonische Zeugniße der Verstädterung Reinbeks waren Neubauten wie ein 20-geschoßiges Hochhaus, das 1965 als höchstes Wohnhaus in Schleswig-Holstein galt. Dem systematisch betriebenen Ausbau Reinbeks als Wohn- und Gewerbestadt folgten verbeßerte Verkehrsanbindungen nach Hamburg: Elektrifizierung der Bahnstrecke und Einbindung in den Hamburger Verkehrsverbund. Anfang der achtziger Jahre schließlich erhielt Reinbek eine eigene Anschlußstelle an der neuen Autobahn A 24 Hamburg-Berlin.

Noch rasanter verlief die Verstädterung in Glinde, das sich vom Gutsdorf zu einer Industrie- und Arbeiterwohngemeinde wandelte. Die Einrichtung des erwähnten Gewerbegebiets Reinbek/Glinde/Schönningstedt brachte auch hier einen erheblichen Bevölkerungßchub, der wiederum umfangreichen Siedlungsbau nach sich zog. Bis 1968 vervierfachte sich die Einwohnerzahl gegenüber dem letzten Vorkriegßtand (1939) und erreichte fast 9.000. Gleichzeitig wurde in den 1960er Jahren mit der Errichtung eines neuen, am Reißbrett geplanten „modernen“ Ortszentrums mit mehrstöckigen Büro- und Geschäftshäusern begonnen. Die stark gestiegenen Gewerbesteuereinnahmen hatten solche Pläne möglich gemacht. Die alte Durchgangßtraße mußte zu diesem Zweck innerhalb des Ortszentrums verlegt werden. Zuvor hatte ein großer Gutsbetrieb Glindes Ortsmitte geprägt – die alten Wirtschaftsgebäude des Gutes wurden nun vollständig abgerißen.

All diese Entwicklungen veränderten den Charakter des zuvor meist ländlichen Raumes um Hamburg. Das Dorf verlor seine bisherige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle, die bisher von ländlich-agrarisch-kleingewerblichen Zusammenhängen bestimmt worden war. Immer mehr übernahm das Dorf die partikulare Funktion des Wohnens – und zerfiel dabei in einzelne Teilsiedlungen (bevor die kommunalen Gebietsreformen der 1970er Jahre vielen Gemeinden auch ihre politische Selbständigkeit nahm).

Die Art und Weise, wie sich das Modernitätsverständnis der 1960er Jahre städtebaulich in den Umlandkommunen niederschlug, stieß in der Bevölkerung nicht nur auf Gegenliebe. Die kühle Rationalität der Regionalplaung, die rasche Geschwindigkeit des räumlichen Wandels rief bei vielen Menschen Widerspruch hervor, weil sie traditionelle Lebensräume zerstörte. Bürgerinitiativen agierten gegen Umgehungßtraßen wie den Ostring in Ahrensburg und die Nordtangente in Bad Oldesloe. Auch die im Zuge der Verstädterung des Umlandes vorgenommenen kommunalen Neuordnungen in den Räumen Norderstedt und Reinbek riefen Ende der 1960er und Anfang der 1970er vor Ort vielerlei Proteste hervor.

So wurden Modernisierung und räumlicher Wandel von der betroffenen Bevölkerung nicht wertfrei erlebt. Sie brachen in bestehende Lebenswelten ein und veränderten diese. Anhand lebensgeschichtlicher Erzählungen läßt sich dokumentieren, wie sehr der räumliche Wandel im Hamburger Umland – der Bau neuer Wohnsiedlungen und Hochhäuser, Verkehrstraßen und Straßen – subjektiv als Einschnitt empfunden und im autobiografischen Gedächtnis verankert wurde.

Das Dorf hat im Verlauf der regionalen Modernisierung seine bisherige wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle verloren. Als großstadtnaher Wohnort zerfiel es häufig in einzelne Teilorte oder -siedlungen. Verändert aber hat sich auch die Rolle der Metropole, deren verdichtete Urbanität und deren spezielle Form von öffentlichkeit über Jahrhunderte hinweg ein Leitbild der bürgerlichen Gesellschaft gewesen war – nun aber langsam an Bedeutung verlor.
Damit ist auch die Geschichte der Beziehungen zwischen Stadt und Land in ein neues historisches Stadium getreten. Die Industrie- und Bevölkerungßuburbanisierung kehrte die einstige „Landflucht“ um in eine „Stadtflucht“. Hatte über Jahrhunderte hinweg zuvor die städtische Urbanität an der Spitze der räumlichen Prestigeskala gestanden – ja, als Hort der Zivilisation gegolten – so wurde diese Rangordnung nun aufgelöst zugunsten einer gleichmäßiger verteilten, raumfunktionalen Spezialisierung.

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