Landschaftsgeschichte: Region, Natur und Kultur


3. Fallstudie II: Nordseemarsch

Völlig anders gelagert sind die Wechselwirkungen zwischen Natur und Mensch in den Nordseemarschen. Hier ist durch den Einfluss des Menschen einerseits, den Naturgewalten andererseits ein seit vielen Jahrhunderten währender Wandel zu beobachten. [10]

Das Watten- bzw. Marschenland an der Nordseeküste war ursprünglich wegen der regelmäßigen Überflutungen wenig wirtlich. Erst menschliche Arbeit und Technik erlaubten im Lauf der Geschichte eine intensivere Besiedlung und Bewirtschaftung der äußerst fruchtbaren Gegend. Der zeitweilige oder dauerhafte Schutz vor Überschwemmungen war und ist die Voraussetzung für Landgewinnung sowie Besiedlung und Bewirtschaftung. Dabei spielten der Bau zunächst von Wurten (Warften), später dann von Deichen die entscheidende Rolle. Die im hohen Mittelalter entstandene geschlossene Seedeichlinie trennte erstmals das Wasser vom Land. In einem ursprünglich amphibischen Raum zeigt sich der Deich zunächst als klare bautechnische Barriere gegenüber dem Wasser.

Bei näherem Betrachten aber bildet der Deich eine höchst komplexe, immer wieder auch veränderliche Grenze, die die Landschaft in besonderem Maß geprägt hat. Auf der einen Seite ging durch Sturmfluten und Uferabbruch Land verloren, auf der anderen Seite gab es durch Aufschlickung und Eindeichungen die Möglichkeit, neues, in der Regel landwirtschaftlich genutztes Land zu gewinnen. Das mit dem Deichbau verbundene System der Entwässerungsgräben schuf eine teilweise bis heute gültige Gliederung der Marschenlandschaft.

Neben den Seedeichen prägen Binnendeiche die Marschenlandschaft. Sie sorgen für eine kammerartige Gliederung der eingedeichten Flächen. Bei diesen Binnendeichen kann es sich um ehemalige See- und nunmehrige „Schlafdeiche“ [11] handeln, um alte Ringdeiche sowie gegen Moor- und Geestwässer schützende Hinterdeiche. Eine weitere Form von Binnendeichen bildeten die so genannten „Sietwenden“ (auch Felddeiche genannt): Kammerartig unterteilten sie das von den Hauptdeich- und Hinterdeichen geschützte Land. Diese Sietwenden lenkten nicht nur Entwässerungsströme, sondern bewirkten im Fall eines Bruchs des Seedeiches, dass die überschwemmten Flächen begrenzt blieben.

Nur selten folgt dem Deich seewärts sogleich das Meer. Vielmehr existiert häufig ein bisweilen kilometerbreites Vorland − das so genannte Außendeichsland, das gelegentlich von Sturmfluten überschwemmt wurde. Mit diesem amphibischen „Zwischenreich“ erweist sich die Grenze zwischen Land und Meer erst recht als differenziert. Der Außendeich bildete einen krassen Gegensatz zum eingedeichten, kultivierten Binnenland.

Seit dem späten 20. Jahrhundert ist ein weiterer Aspekt hinzugetreten, der die Rolle des Deiches als Landschaftsgrenze verändert hat: der Naturschutz. Deichlinien werden aus Gründen des Naturschutzes zurückverlegt, schon eingedeichte Flächen nicht mehr bewirtschaftet – eine „Wieder-Verwilderung“ der Binnendeichsflächen ist die Folge. Statt intensiver Agrarwirtschaft bleiben diese Flächen sich selbst überlassen, werden höchstens zur Viehweide genutzt und dienen im Übrigen den Seevögeln als Nahrungs-, Brut- und Rastraum. Ihre räumliche Struktur verändert sich dadurch erneut: Die schnurgeraden Entwässerungsgräben verschlicken mit der ökologisch durchaus erwünschten Folge, dass sich im Binnendeichsland weite Wasserflächen bilden. [12] Damit gleichen diese Binnendeichsflächen paradoxerweise nun dem „wilden“ Außendeich – eine historisch bemerkenswerte Umkehrung.

Ein konkretes Beispiel aus der Ostemarsch (Niedersachsen) zeigt, welche Rolle die Existenz oder Nicht-Existenz eines Deiches für das Leben in der Marschenlandschaft spielte. Es geht um das Dorf Itzwörden im Kirchspiel Geversdorf, das sich inmitten der entfaltenden Moderne des frühen 19. Jahrhunderts gleichsam im mittelalterlichen „Anachronismus“ verharrte – jedenfalls, wenn man es aus der Perspektive der staatlichen Wasserbaubeamten betrachtete. [13] Das auf einer Großwurt liegende Itzwörden verweigerte sich selbst nach der für die Nordseeküste so verheerenden Sturmflutkatastrophe vom Februar 1825 standhaft dem staatlichen Wunsch nach Eindeichung.

Auslöser für den Konflikt war der Wunsch der königlich-hannoverschen Generaldirektion des Wasserbaues zur Eindeichung des Dorfes Itzwörden. Der leitende staatliche Wasserbaubeamte für diese Region, Oberdeichgräfe Friedrich August Rudolph Niemeyer, hatte bereits einen Plan zur Eindeichung entworfen hatte. Das Itzwörden-Projekt betraf – so hieß es wörtlich in einem Schreiben der Stader Landdrostei an das Amt Neuhaus, in dem Itzwörden lag – „die gänzliche Eindeichung des ganzen Dorfes Itzwörden welches bisher blos auf Wurthen gebauet, allen hohen Sturmfluthen ohne die geringste Sicherheits-Vorkehrung ausgesetzt und daher höchst gefährlich situiret ist“. [14] Damit hätte sich die Marschenlandschaft um Itzwörden entscheidend verändert.

Wie aber das Amt Neuhaus und der Oberdeichgräfe Niemeyer am 25. Juli 1825 an die Landdrostei in Stade als mittlere Regierungsinstanz berichten mussten, gelang es allen Bemühungen zum Trotz nicht, sämtliche Interessenten von Itzwörden zu überzeugen. Insbesondere blieben die Kostenübernahme der Eindeichung sowie die künftige Unterhaltung des neuen Deiches strittig. [15]

Die Itzwördener selbst schätzten die Gefahrenlage ohnehin im Vergleich zur Regierung als weniger bedrohlich ein. Abgesehen davon, dass die Lage auf der Wurt in der Vergangenheit in der Regel ausreichend Sicherheit geboten hatte, hofften sie, dass sich ein solch katastrophales Ereignis wie die Sturmflut vom Februar 1825 nicht wiederholen würde. Zur Übernahme der Kosten waren sie jedenfalls nicht bereit, zu wenig konkreten Nutzen bot ihnen die projektierte Eindeichung des Dorfes. Schließlich musste die Regierung einlenken.

Dieses Fallbeispiel dokumentiert zwei unterschiedliche Formen von Marschenlandschaften: die Wurt begegnet den Fluten in „weicher“ Form allein durch ihre Höhe, der Deich hingegen zieht eine klare Grenze zwischen Land und Wasser. Die Entscheidung zum Deichbau an der Nordsee und den tideabhängigen Flüssen war also nicht die einzige mögliche Reaktion auf die naturräumlichen Gegebenheiten, sondern bildete vielmehr eine von mehreren Optionen, um mit den Gezeiten zu leben. Aber man entschied mit dem Deichbau, auf welche Art und Weise der „amphibische“ Lebensraum genutzt werden sollte: nämlich im Interesse einer intensivierten Landwirtschaft und des grundbesitzenden Marschenbauerntums. Gegenüber der Wurtensiedlung war der Deichbau die zwar riskantere, aber ökonomisch lukrativere Option – weil er die Räume öffnete. Jenes „weiche“ Wechselspiel der Gezeiten also, das noch im Zeitalter der Wurten im amphibischen Raum vorgeherrscht hatte und bei dem die Flut in den Prielen ungehindert ein- und ausströmen konnte, wurde aufgegeben zugunsten einer artifiziellen Grenze.

Diese Entscheidung hat die Landschaft an der Nordseeküste bis heute entscheidend beeinflusst. Den vereinzelten Wurtensiedlungen wie Itzwörden – auf den Halligen, der Elbinsel Krautsand und der Weserinsel Harriersand hat man teils bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf Wurten – blieb nur die Rolle als zeitweilige Landschafts-„Inseln“ in den im Übrigen vollständig eingedeichten Nordseemarschen.

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Quellen

[10]
Die folgenden Abschnitte basieren unter anderem auf (mit archivalischen Nachweisen) Norbert Fischer: Im Antlitz der Nordsee – Zur Geschichte der Deiche in Hadeln. Stade 2007; ders.: Wassersnot und Marschengesellschaft – Zur Geschichte der Deiche in Kehdingen. Stade 2003 sowie ders.: Between Land and Sea: The Dike as an Important Element of the North Sea Coastal Landscape. In: In: Cultural Heritage and Landscapes in Europe. In: Landschaften: Kulturelles Erbe in Europa. Proceedings of the International Conference, Bochum, June 8-10, 2007. Edited by Christoph Bartels and Claudia Küpper-Eichas, Bochum 2008, S. 393-400.

[11]
„Schlafdeiche“ sind ehemalige Hauptdeiche, die nach Vorverlegung der Deichlinie zu Binnendeichen wurden und nurmehr indirekte Schutzfunktionen haben.

[12]
Robert Tarnow/Peter Petersen/Karl Petersen, Speicherkoog Dithmarschen. Ein neuer Deich verändert die Landschaft. Meldorf o. J. (1978), S. 110-117;

[13]
Das Folgende nach der Akte des Niedersächsischen Staatsarchives Stade, Rep. 74 Neuhaus, Nr. 702.

[14]
Landdrostei an das Amt Neuhaus vom 21. Juli 1825. In: Niedersächsisches Staatsarchiv Stade, Rep. 74 Neuhaus, Nr. 702.

[15]
Bericht Amt Neuhaus und Oberdeichgräfe Niemeyer an Landdrostei in Stade vom 25. Juli 1825. In: Ebd.



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