- 1. "Wasseraugen längs der Deichlinien"
- 2. Die "hydrografische Gesellschaft"
- 3. Wirtschaftliche Ressourcen
- 4. Soziale Hierarchie und politisch-rechtliche Autonomie
- 5. Eigensinn und regionale Mentalität
Norbert Fischer: Deich, Mentalität und regionale Gesellschaft in Kehdingen
3. Wirtschaftliche Ressourcen
Dennoch: Der Kampf gegen das Wasser zahlte sich aus - und zwar im wahren Sinn des Wortes. Nicht zufällig nahmen die Marschdistrikte im 18. Jahrhundert bei der Höhe der Kontributionszahlungen im Herzogtum Bremen aufgrund ihres (land-) wirtschaftlichen Reichtums vordere Plätze ein.1 Allein die vier Marschdistrikte Altes Land, Kehdingen, Neuhaus und Wursten brachten 43% der monatlichen Kontributionen von 12 000 Reichstaler auf, obwohl in ihnen nur ein Viertel der Bevölkerung des Herzogtums lebte.2 Der wirtschaftliche Reichtum machte sich auch in der Bevölkerungszahl bemerkbar: Kehdingen gehörte im 18. Jahrhundert zu den am dichtesten besiedelten Gebiete im Herzogtum Bremen.3
Wie auch in den übrigen Nordseemarschen konnte sich die Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit auf zunehmend größere wirtschaftliche Marktzusammenhänge einstellen - an der Niederelbe begünstigt durch die Nähe zu Hamburg. Ochsenmast und -handel spielten eine wichtige Rolle, Feldgraswirtschaft und Rapsanbau breiteten sich in den südlichen Elbmarschen aus.4 Kehdingen habe den "fettesten Marschboden der Elbmarschen", hieß es in Brockhaus' Konversationslexikon von 1898.5 Neben der Landwirtschaft waren die Ziegeleien, die vor allem im 19. Jahrhundert meist im Außendeichsland errichtet wurden, ein zunehmend wichtiger Erwerbszweig, dessen Boom mit dem städtebaulichen Wachstums Hamburg zusammen hing. Der Wasserweg der Elbe ermöglichte einen praktischen Transport - insbesondere im südlichen Kehdingen sorgten zahlreiche kleinere und größere Häfen für raschen Güterumschlag.
Unter diesen Voraussetzungen erschien es folgerichtig und lukrativ, dauerhaft Geld, Zeit und Arbeitskraft in den Ausbau und die Verbesserung der Deiche zu investieren. So kam es noch im 19. und 20. Jahrhundert zu den erwähnten Neu-Eindeichungen: Zwischen 1840 und 1890 wurden rund 3 000 Hektar Fläche des Nordkehdinger Außendeiches zur landwirtschaftlichen Nutzung mit Sommerdeichen umgeben. Die Errichtung dieser kostspieligen Sommerdeiche wäre nicht denkbar ohne jene wirtschaftliche Rentabilität, die der neugewonnene Marschboden mit sich brachte.
Die erwähnten Beispiele zeigen vor allem eines: Lebensweise und Wirtschaftsformen waren in Kehdingen davon geprägt, die "wilden Wasser" der Elbe und der Nordsee zu zähmen. Deichbau und -unterhaltung schufen die Voraussetzungen, um die wirtschaftlichen Ressourcen des Marschenbodens zu nutzen, der eine intensivere Bewirtschaftung geradezu herausforderte.